Die brillanten Titelblätter von „Terra Ignota“

Swantje Niemann • 29. Juli 2024
Die drei Bücher

Romane können eine Menge Informationen transportieren, bevor die eigentliche Geschichte losgeht (zum Beispiel in Karten der Schauplätze oder dem Vorwort eine*r fiktiven Herausgeber*in) – und vor kurzem bin ich auf ein neues Beispiel dafür gestoßen: Die Titelblätter der „Terra Ignota“-Tetralogie von Ada Palmer. Ich muss zugeben, dass ich das Titelblatt des ersten Buchs vor dem Lesen erstmal nach einem kurzen Blick überblättert hatte, aber später ist mir klar geworden, wie viel Information dieses eigentlich transportiert. Also, willkommen zu einem Artikel, der eine Lupe über circa fünf Buchseiten hält.


Achtung: Es gibt Spoiler für die grobe Entwicklung des Settings und politischen Hintergrunds der Serie.



Was ist „Terra Ignota“ eigentlich

Eine kurze Hintergrundinfo zu „Terra Ignota“: Es handelt sich um eine Science-Fiction-Tetralogie voller interessantem sozialem Worldbuilding, philosophischen und mythologischen Einflüssen. Alle vier Bücher beginnen mit einem intradiegetischen Titelblatt, das den jeweiligen Roman als einen innerhalb des Universums existierenden Text ausweist.


Weltenbau auf kleinstem Raum

Das Titelblatt von Band eins, „Dem Blitz zu nahe“, enthüllt, dass die Schilderung Ereignisse im Jahr 2454 abgdeckt, „auf Wunsch bestimmter Personen“ verfasst und ihre Veröffentlichung durch mehrere Stellen abgesegnet wurde. Auch die Figur des*der Anonymnin* wird eingeführt, weil diese*r eine Empfehlung für das Buch ausspricht.


Die Veröffentlichungsfreigaben führen bereits mehrere wichtige Organisationen des Settings ein und auch die Vielsprachigkeit der Welt von Terra Ignota wird bereits angedeutet – Teile des Textes sind auf Latein oder Französisch verfasst. Dass der Text mit dem Einverständnis aller dargestellten „freien und unfreien Personen“ freigegeben wird und dass auch die Cousins-Kommission für den humanen Umgang mit Diensterninnen*, ist auch schon ein interessantes Stück Worldbuilding: Es gibt unfreie Menschen, aber gleichzeitig wird darauf geachtet, dass bestimmte Rechte von diesen gewahrt bleiben. Außerdem haben alle dargestellten Figuren der Veröffentlichung zugestimmt – was angesichts des später folgenden Texts schon ziemlich interessant ist. Was auch bereits auffällt, ist die geschlechtsneutrale Sprache. *Die Endung "-nin" ist die Übersetzungslösung, welche Übersetzerin Claudia Kern für die neutralen Endungen und Pronomen gefunden hat, welche der Großteil der Buchfiguren verwendet.


Es folgt die Einordnung des Textes als „garantiert nicht bekehrend“, was auch ein wichtiger Einblick in den Umgang mit Religion in dem Setting ist. Die „Inhaltsfreigabe der gordischen Kommission“ gibt ebenfalls Einblick in die Tabus und Sorgen der Kultur, in deren Rahmen der Text entstanden ist. Neben Warnungen rund um Sex, Gewalt und beleidigende Inhalte, wie wir sie auch aus zeitgenössischen Content Notes kennen, wird auch hier wieder die Diskussion religiöser Inhalte als etwas behandelt, wovor Lesende gewarnt sein wollen.


Anleitung für den Umgang mit dem Text

Gleichzeitig fungiert die Inhaltsfreigabe auch als an die externen Lesenden gerichtete Content Notes – die Warnung zum Thema Gewalt zum Beispiel ist sehr angebracht und bereitet Lesende auf eine Enthüllung vor, die vor dem Hintergrund des eigentlich recht friedlichen und stabilen Settings, in das wir zunächst eingeführt werden, doch ziemlich heftig einschlägt.


Der Fakt, dass das Titelblatt überhaupt existiert und deutlich macht, dass eine Absicht hinter der Veröffentlichung steckt und dass das Manuskript durch mehrere Hände gegangen ist, bereitet Lesende darauf vor, den Text als das Werk eines unzuverlässigen Erzählers und womöglich als Propaganda zu lesen. Die Frage kommt auf: Welche Änderungen oder Auslassungen haben sich die dargestellten Personen womöglich im Austausch gegen ihre Veröffentlichungserlaubnis gewünscht?


Die Geschichte einer Eskalation

Während das Titelblatt des zweiten Bandes, „Sieben Kapitulationen“ relativ ähnlich ist – mit Ausnahme der Empfehlung, die durch ein sehr bedeutungsvolles anderes Zitat ausgetauscht wurde – sieht es im dritten Band, „Der Wille zum Kampf“ ganz anders aus: Der Text ist nun streng geheim und statt Freigaben zu erteilen, benennen die verschiedenen Institutionen, unter deren Aufsicht das Werk entstanden ist, nun die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, bevor es an die Öffentlichkeit gehen kann. Welche Bedingungen das sind, liefert einige Vorausdeutungen für die weiteren Ereignisse, aber auch wieder einen kleinen Einblick in die Kultur und Struktur der Leute und Organisationen hinter den Geheimhaltungsgeboten. Teilweise wird die Geheimhaltung begründet und die Einleitung endet schließlich mit einer Androhung von Konsequenzen für eine illegale Betrachtung oder Veröffentlichung, die sehr „in character“ für die Institution ist, die sie ausspricht. Es wird sehr deutlich: Die friedliche Welt der ersten beiden Bände existiert nicht mehr.


Der vierte Band, „Perhaps the Stars” (noch nicht auf Deutsch erschienen) hat schließlich statt einem offiziellen Titelblatt ein kurzes, informelles Vorwort, das auch wieder Vorausdeutungen liefert, aber auch den Zerfall der alten Ordnung spiegelt. So erzählen die Titelblätter allein schon für sich genommen eine Geschichte. Rückblickend nach der Lektüre aller vier Bücher weiß ich das als ein weiteres spannendes und clever gemachtes Detail der Serie zu schätzen. Es erinnert mich ein bisschen an das „environmental storytelling“ von Filmen und Spielen.


Bonus: Mein Tipp zum „Terra Ignota“ lesen

Apropos rückblickend: „Terra Ignota“ ist nicht die zugänglichste Buchserie, aber die Lektüre lohnt sich. Ich empfehle, Band eins und zwei dicht nacheinander zu lesen und drei und vier vielleicht auch. Es gibt eine Vielzahl von handelnden Figuren und es ist leicht, den Überblick zu verlieren, aber Lesen und Wieder-Lesen wird von der Reihe reich belohnt.


Bild einer Bibliothek
von Swantje Niemann 16. Juli 2025
Meine Sachbuch- und Belletristik-Entdeckungen Januar bis Juni 2025: Fantasy, Sci-Fi, Sachbücher, Belletristik, Klassiker ...
Das in Rot- und Grau-Tönen gehaltene Cover von
von Swantje Niemann 23. Juni 2025
Ich überarbeite "Das Buch der Augen" für die e-Book-Veröffentlichung und das ist ein schöner Anlass, nochmal über das Buch nachzudenken.
Die 10 Bände des Malazan Book of the Fallen in einem weißen Regal
von Swantje Niemann 6. Juni 2025
Lohnen sich die 10.683 Seiten?
Die Bücher
von Swantje Niemann 20. Januar 2025
Auch in der zweiten Jahreshälfte von 2024 habe ich viele gute, und einige großartige Bücher gelesen. Ich habe viel aussortiert, um bei einer übersichtlichen Liste zu landen.
Hand mit einer Wunderkerze vor dunklem Hintergrund
von Swantje Niemann 9. Januar 2025
2024 endet, 2025 beginnt, und damit gehen große Veränderungen einher
Vier Bücher mit dem Schnitt nach vorne, sodass man die Post-Its zwischen den Seiten sehen kann
von Swantje Niemann 24. Juli 2024
Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.
Die Bücher
von Swantje Niemann 9. Juli 2024
Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt.  Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).
Vier der im Beitrag beschriebenen Bücher in einem weißen Regal
von Swantje Niemann 28. Dezember 2023
Ich habe dieses Jahr wieder einige Bücher entdeckt, die ich nur zu gerne weiterempfehle.
Bild einer etwas krakeligen Mindmap
von Swantje Niemann 20. November 2023
Gleich noch ein spannendes Team-Projekt!
Cover des Romans
von Swantje Niemann 4. November 2023
"Königsgift" und seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte
Weitere Beiträge