„The Malazan Book of the Fallen” – nicht perfekt, aber unglaublich interessant

Meine erste Begegnung mit „The Malazan Book of the Fallen“ von Steven Erikson war in Form der Hörbuchfassung des ersten Romans. Da ich sehr oft gehört hatte, dass sie zunächst sehr verwirrend sei und alles erst später im Buch einen Sinn ergebe, habe ich also eine ganze Weile geduldig hin- und herspringenden Kapiteln zugehört – bis ich feststellte, dass mein MP3-Player die Tracks der ersten und zweiten CD durcheinander gewürfelt hatte und die Handlung bei weitem nicht so verwirrend ist, wie erst gedacht. 2023 habe ich bei meinem zweiten Versuch die Reihe beendet und fühle mich sehr bereichert von der Erfahrung. Gleichzeitig muss ich aber zugeben, dass sich die Lektüre stellenweise wie Arbeit angefühlt hat. Und das nicht nur, weil die Reihe insgesamt 10.683 Seiten hat.
Was ist das "Malazan Book of the Fallen"?
Bei der Dekalogie – auf Deutsch als „Das Spiel der Götter“ erschienen – ist eine dieser Reihen, um die man im englischsprachigen Raum kaum herumkommt. In Deutschland scheint sie sich zwar zu verkaufen (zumindest sehe ich die Bücher oft genug in Buchläden und es sind immer neue Bände der Übersetzung herausgekommen), aber ich sehe sie kaum diskutiert. Es ist auch eine Buchreihe, die ziemlich polarisiert – während einige Fans sie feiern und bei jeder passenden oder auch unpassenden Gelegenheit empfehlen, finden andere sie mehr oder weniger unlesbar.
Worum geht es eigentlich?
Äh … hm. Zehn massive Bücher bieten viel Platz, und Erikson nutzt ihn voll aus, um ein Setting zu entwerfen, das sich in alle Richtungen ausdehnt. Die Handlung entfaltet sich auf mehreren Kontinenten und gelegentlich auch in den magischen „Warrens“ oder „Holds“ und der Zeithorizont der Reihe ist ähnlich beeindruckend. Der Großteil der – nicht chronologisch erzählten – Handlung findet zwar in einem vergleichsweise übersichtlichen Zeitfenster statt, aber es gibt auch immer wieder aus gutem Grund Rückblenden auf Ereignisse, die teilweise mehrere Jahrtausende zurückliegen, aber dennoch massiven Einfluss auf die Gegenwart haben. Unzählige Akteur*innen mit mehr oder weniger versteckten Agenden beeinflussen das Geschehen. Erikson hat seine eigenen, sehr spannenden Versionen klassischer Fantasy-Völker und einige sehr originelle komplett neue Gruppen und Wesen.
Die ersten vier Bände fungieren als eine Art Tetralogie: In Band 1 und 3 folgen wir einer Gruppe von Soldat*innen des Malazan Empire und ihren teilweise sehr ungewöhnlichen Verbündeten auf dem Kontinent Genabackis, Band 2 und 4 spielen auf dem Kontinent Seven Cities, wo sich Aufständische um eine geheimnisvolle Anführerin scharen, um die Vertreter*innen des Malazan Empire zu vertreiben. Bereits hier ist die Chronologie etwas exzentrisch: Das erste Viertel von Band 4 liegt chronologisch vor Band 2 und erzählt die Geschichte einer Figur, die wir dort zum ersten Mal sehen, um sie dann jedoch weiterzuerzählen. Und Band 5 spielt noch vor Band 1 und teilt nur wenige Figuren mit den anderen Büchern. Ab Buch sieben werden schließlich allmählich die angefangenen Fäden verwoben, aber es kommen auch immer neue Handlungsstränge und Subplots hinzu – tatsächlich bis kurz vor dem Ende des letzten Buches.
Im Hintergrund der Kämpfe der Sterblichen stehen die Gottheiten der Welt, wobei die Grenze zwischen Sterblichen und Gottheiten hier fließend ist – wir sehen Sterbliche aufsteigen und Götter ihre Macht verlieren. Nach und nach kristallisiert sich heraus, dass ein Gott besonders zerstörerische Pläne hat und aufgehalten werden muss. Aber auch hier gibt es noch ein paar unerwartete Wendungen.
Der Fakt, dass die Reihe irgendwie alles mal thematisiert und das häufig auf eine interessante oder epische Weise macht, führt dazu, dass Malazan eigentlich bei so gut wie allen Fragen zu einem „Buch, in dem es um X“ geht, empfohlen wird. Allerdings mit der manchmal unausgesprochenen Einschränkung, dass sich Lesende erstmal durch sehr viel Buch wühlen müssen, dass mit „X“ nichts zu tun hat.
Was macht die Malazan-Romane so interessant?
Die Malazan-Reihe ist ehrgeizig, komplex, politisch, provozierend und in sehr vieler Hinsicht vielfältig. Das fängt bei der großen Diversität des Figurenensembles an – inklusive selten abgedeckte Achsen von Diversität wie zum Beispiel POV-Figuren mit geistigen Behinderungen –, aber auch Themen und Ton sind sehr abwechslungsreich. Ein großes Thema der Serie ist Mitgefühl. Aber es geht auch um Macht, Religion, Kapitalismus, Kolonialismus, Schuld, Vergebung und vieles mehr. Auch Geschichte und die Art, wie Menschen und die nicht-menschliche Welt aufeinander einwirken, werden immer wieder thematisiert - auf Tor-Online findet ihr zum Beispiel einen Artikel, den ich über MBOTF als Modell für das Erzählen des Anthropozän geschrieben habe. Teilweise ist die Serie sehr tragisch und konfrontativ, teilweise philosophisch und teilweise aber auch humorvoll bis albern. Diese drei Aspekte sind eng miteinander verflochten.
Ein weiterer Aspekt: Erikson wagt sich an viele unbehagliche Themen und geht gnadenlos mit seinen Figuren um, aber gefühlt immer mit der Grundeinstellung, dass einzelne Personen und ihr Leid wichtig sind. Ich empfehle, Content Notes für die Bücher zu googeln.
Es dauert manchmal eine ganze Weile, mit den Figuren warm zu werden, und bei manchen Figuren bleibt es ganz aus. Aber es gelingt der Reihe immer wieder, Lesende emotional zu packen. Einige Szenen sind bewegend genug, um sich mir dauerhaft eingeprägt zu haben, und genauso geht es mir mit vielen Zitaten. Denn Erikson wartet mit so einigen tiefgründigen Statements auf, die viel Relevanz für die Realität haben. Zu den Highlights der Bücher gehören bildgewaltig-epische Momente ebenso wie clevere, witzige Dialoge und bizarre Situationen ebenso wie emotionale Momente oder Schilderungen der Welt, die deren immenses Alter und deren Komplexität zeigen. Eriksons Hintergrund ist Archäologie und Anthropologie und das spiegelt sich im Weltenbau wieder.
Was macht die Romane manchmal frustrierend?
Die Buchreihe verlangt Lesenden einiges an Geduld und Vertrauen ab, da die Bücher oft längere Abschnitte haben, die sich verwirrend oder ziellos anfühlen, bis schließlich rückblickend alles einen Sinn ergibt. Und wie es bei einer Serie sein muss, die halb Epos, halb Anthologie ist, werden wahrscheinlich alle Lesenden auf Handlungsstränge und Figuren stoßen, mit denen sie nichts anfangen können. Es ist oft klar, was passiert, aber nicht, ob und warum es wichtig ist – Vordergrund und Hintergrund des Geschehens sind nicht so klar abgegrenzt wie in vielen anderen Büchern. Zum Ende der Reihe hin habe ich mich auch mehrfach bei dem Wunsch ertappt, dass der Autor lieber die bereits eingefügten Handlungsfäden verknüpfen statt neue hinzufügen würde.
Und während ich tatsächlich sehr mag, wie progressiv die Reihe in vieler Hinsicht ist (stilistisch und inhaltlich) und ihre Schilderungen von Freundschaften brillant finde, wird es bei bei Schilderungen von romantischen und/oder sexuellen Beziehungen und beim Humor manchmal ein bisschen boomerig. Das ist aber nicht immer der Fall. Es gibt auch ein paar romantische Beziehungen, die ich sehr gelungen geschildert finde. Dass die Serie auch nicht vor sehr aufwühlenden Themen wie sexualisierter Gewalt zurückschreckt, ist prinzipiell völlig in Ordnung und in vielen Fällen gelingt die Auseinandersetzung damit, aber nicht in allen.
Mein Fazit
Ich hatte nicht zu jedem Zeitpunkt 100 Prozent Spaß an der Lektüre, aber bin ungemein froh, die gesamte Reihe gelesen zu haben. Wenn ihr Geduld für eine massive Buchreihe aufbringt, die außerdem eigentlich mehrfach gelesen sein will, kann ich euch nur empfehlen, es mit dem „Malazan Book of the Fallen“ zu probieren. Die Reihe zeichnet ein gewaltiges, abwechslungsreiches Panorama einer fiktiven Welt, und speist sich auch aus viel empathiegetriebener Wut über den Zustand von unserer. Sie hat es geschafft, meine Vorstellung davon zu verändern, was eigentlich alles im Fantasy-Genre möglich ist, und bietet ungemein viel, worüber man nach der Lektüre noch lange nachdenken kann. Sie inspiriert mich auch, mir als Autorin Eriksons Mahnung „ambition is not a dirty word“ zu Herzen zu nehmen.


