Erzählen in der ersten Person – zwei sehr effektive Ansätze

Swantje Niemann • 13. April 2023
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In den ersten Monaten dieses Jahres habe ich zwei Bücher beziehungsweise Reihen gelesen, die meiner Meinung nach das meiste aus ihrer gewählten Perspektive – Erzählen aus der ersten Person – herausholen. Dabei könnten ihr Setting, ihr Genre, viele zentrale Themen und die Art, wie sie diese Perspektive einsetzen, kaum verschiedener sein. Und weil ich viel zu lange keinen Blogpost mehr geschrieben habe, schaue ich mir das jetzt mal öffentlich im Detail an:


War for the Rosethrone: Pseudo-Autobiografie

Relativ traditionell, aber einfach fantastisch umgesetzt ist das Erzählen in der ersten Person in Peter McLeans „War for the Rosethrone“-Reihe, deren letzten beiden Bände ich diesen Monat beendet habe. Die „War for the Rosethrone“-Tetralogie (aktuell sind die ersten beiden Bände auch auf Deutsch erhältlich) stellt quasi einen Ausschnitt aus der Autobiografie des Protagonisten, Tomas Piety, dar. Als Kriegsveteran, Priester, Gangster, Vollstrecker für einige sehr gefährliche Leute und schließlich politischer Spieler mit einer eigenen Agenda spielt er im Verlauf der Handlung so einige Rollen und erzählt im Rückblick sehr offen davon.


Tomas erzählt in einer unverwechselbaren Stimme und mit so einigen Signatur-Formulierungen von brutalen Machtkämpfen, von Familie, Freundschaft und den Traumata, die ihn teilweise seit seiner Kindheit begleiten. Peter McLean schafft es wirklich, das Gefühl zu vermitteln, dass Tomas direkt seine Geschichte erzählt.* Viel erzählt sein Protagonist explizit, hat immer wieder Momente der Introspektion und wechselt zwischen Rechtfertigung, Selbstanklage und Resignation, und was zwischen den Zeilen steht, vermittelt noch mehr über Tomas’ Verletzlichkeit und Widersprüche.


Tomas erzählt ehrlich – oder zumindest gibt es im Buch keine Anzeichen dafür, dass er sein Publikum in die Irre führen möchte, vertraut er dem Papier doch Dinge an, die der auf Status und Kontrolle bedachte Mann nicht in eine offizielle Biografie packen würde. Die Auslassungen und Rechtfertigungen im Buch scheinen sich daran anzulehnen, was Tomas selbst glauben will. Der Text hat also etwas von einem (literarisch geglätteten) Tagebuch oder Geständnis. Ich denke, es ist in erster Linie dieser sehr charismatischen Erzählstimme zu verdanken, dass die Bücher trotz ihrer allgegenwärtigen Düsternis einen starken Sog entwickeln.


Meine Rezensionen zu der Reihe findet ihr auf Literatopia. Die Rezensionen für Band eins bis drei sind online, die für Band vier lade ich in den nächsten Tagen hoch.


Drei Kameradinnen: Meta-Perspektive auf das Erzählen

Ganz anders sieht es in „Drei Kameradinnen“ aus – hier wechseln wir nicht nur das Genre von Düster-dreckiger Low Fantasy zu einem Gegenwartsroman, sondern auch die Art, wie das Erzählen in der ersten Person eingesetzt wird, ist eine ganz andere. Auch hier erwacht die erzählende Person – in diesem Fall Kasih, eine junge Woman of Color in Deutschland – dank ihrer individuellen Erzählstimme zum Leben. Aber die imaginierte Erzählsituation ist eine ganz andere. Denn Kasih schreibt bewusst für ein Publikum und spricht dieses direkt und konfrontativ an.


Kasih ist sich sehr bewusst, dass sie kontrolliert, was das Publikum von ihr erfährt. Sie spielt mit der Chronologie und hin und wieder auch mit der Wahrheit, konfrontiert das Publikum mit dessen Erwartungen und ihren eigenen Erfahrungen. So führt sie die Lesenden auf chaotische Weise durch die Vorgeschichte eines Tages, an dessen Ende jemand tot sein wird. Auf dem Weg dorthin entspinnt sich eine Geschichte um eine enge Freundschaft, um Rassismus, Klassismus und Selbstbehauptung, erzählt mit Humor und scharfzüngigen, präzisen Beobachtungen.


Durch die Art des Erzählens, diese unübersehbare Aneignung der Kontrolle und Perspektive durch die Protagonistin, wird unmittelbar die Aufmerksamkeit auf den Akt des Erzählens an sich gelenkt und darauf, wer normalerweise redet und durch wessen Perspektive wir normalerweise auf die Welt blicken. Dies ist einerseits literarisch spannend, aber unterstreicht andererseits perfekt die gesellschaftskritischen Themen des Buches. Auch "Drei Kameradinnen" habe ich für Literatopia rezensiert.


Explizite Erzählsituation

Was beide Bücher machen, ist, dass sie den Rahmen für die Erzählsituation relativ explizit machen: Sowohl Tomas als auch Kasih schreiben ihre Geschichte auf, auch wenn bestimmte Details dabei vage bleiben. Das unterscheidet sich von einer anderen typischen Verwendungsweise der ersten Person, bei der es sich weniger anfühlt, als würden wir eine Geschichte erzählt bekommen und mehr, als wären wir als blinde*r Passagier*in im Kopf der Figur unterwegs, während sich die Ereignisse entfalten. Auch dies ist in einigen Büchern sehr effektiv eingesetzt. Mehr zu meinen allgemeineren Überlegungen zum Erzählen in der ersten Person, Variationen davon und Vor- und Nachteilen gegenüber anderen Perspektiven findet ihr in diesem mittlerweile ziemlich alten Post:


Eine Frage der Perspektive #1

 

*Natürlich fehlen dem Buch die kleinen Imperfektionen, die man zum Beispiel von einem Tagebuch erwarten würde. Aber ich denke, dass jede Buchfigur, die einen längeren Text schreibt oder eine Geschichte erzählt, plötzlich den*die routinierte Autor*in in sich entdeckt, ist eine Abweichung von Realismus, die Lesende gern akzeptieren. Und die „War for the Rose Throne“-Bücher haben gerade genug Mündlichkeits-Marker wie zum Beispiel die refrainhaften Lieblingsformulierungen des Protagonisten, dass trotzdem das Gefühl eines sehr authentischen Texts aufkommt.

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Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.
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Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt.  Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).
Vier der im Beitrag beschriebenen Bücher in einem weißen Regal
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Ich habe dieses Jahr wieder einige Bücher entdeckt, die ich nur zu gerne weiterempfehle.
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Gleich noch ein spannendes Team-Projekt!
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