Polidoris „The Vampyre“ – Ein Blick in den ersten modernen Vampir-Roman

26. November 2022
Ausschnitt aus der Titelseite einer Ausgabe von

Wenn es um den Vampir in der Literaturgeschichte geht, wird immer wieder ein Werk erwähnt: John Polidoris „The Vampyre“. Da so einige Ausgaben davon im Internet herumschwirren, habe ich mich entschieden, die kurze Erzählung auch einmal zu lesen. Und darum geht es:

Aubrey, ein naiver junger Mann, macht die Bekanntschaft des charismatischen Lord Ruthven, der sich einen Spaß daraus macht, Menschen um sich herum die Werkzeuge in die Hand zu geben, um ihre Leben zu ruinieren. Unser Ich-Erzähler wird von Ruthven als Reisegefährte ausgewählt und befreit sich nur langsam aus dem Bann seines vermeintlichen Freundes. Briefe über dessen Verhalten anderswo und seine eigenen Beobachtungen bringen ihn dazu, ihn in Rom zu verlassen.

In Griechenland verliebt sich Aubrey in Ianthe, die ihm auch von Sagen über Vampire erzählt und tatsächlich an sie zu glauben scheint. Aubrey hingegen ist skeptisch – bis Ianthe getötet wird. Ausgerechnet dann taucht Ruthven wieder auf und der verzweifelte Aubrey erlaubt es ihm, ihn von neuem zu begleiten. Im Wald werden sie von Räubern angegriffen und Ruthven anscheinend tödlich verwundet. Im Sterben fordert er Aubrey auf, seine Leiche im Mondlicht zurückzulassen und ein Jahr und einen Tag Schweigen über seinen Tod zu bewahren.

Aubrey hält sein Versprechen – was er nicht hätte tun sollen. Denn als er nach London zurückkehrt, will seine Schwester einen mysteriösen Adligen heiraten – niemand anderes als Ruthven. Verzweifelt will er sie warnen, denn mittlerweile weiß er, was Ruthven ist und dass Menschen, die diesen lediglich für einen gefährlichen Verführer halten, die Gefahr unterschätzen. Aubreys Warnungen fallen auf taube Ohren oder kommen zu spät an. Ruthven und Aubreys Schwester reisen ab, Aubrey stirbt allein und verzweifelt.

Der Anfang von „The Vampyre“ entstand 1816 in einer Villa am Genfer See. Anlass war ein Wettbewerb, bei dem George Byron, Mary und Percy Shelley und John Polidori ihre Fähigkeiten im Schreiben von Schauergeschichten maßen. 1816 ist als „Das Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte eingegangen – von einem Vulkanausbruch hochgeschleuderte Asche verdunkelte den Himmel und führte zu Missernten. Ein Resultat des Abends war ein noch ikonischeres Werk der Literatur: Mary Shelleys clever konstruierter, düsterer „Science Fiction“-Roman „Frankenstein“ – ein Buch, das nicht nur als ein Fenster in eine andere Zeit funktioniert, sondern auch sehr spannende Dinge mit der Erzählperspektive macht und zwei spannende Antihelden miteinander konfrontiert.

Aber zurück zu Polidori und „The Vampyre“: Die Geschichte umfasst gerade einmal 40 Seiten und erschien zunächst fälschlicherweise Byron zugeordnet in einem Magazin (ich halte es für ziemlich wahrscheinlich, dass es kein Versehen war, dürfte doch Byrons Name das Interesse vieler Lesender geweckt haben) und war ein großer Erfolg. Es ist nicht das erste Werk, dass sich mit der Vampir-Thematik beschäftigt (z.B. war ihm da Goethe mit „Die Braut von Korinth“ oder Coleridge mit der unvollendeten Ballade „Christabel“ voraus, die beide verführerische, vampirhafte Frauen schildern), aber doch ein frühes und einflussreiches Werk zu dem Thema und – so weit ich weiß – der erste Prosa-Vampirroman.

„The Vampyre“ passt ausgezeichnet in seine Zeit. Die Geschichte sortiert sich in das Genre des Gothic Novels ein, und spiegelt auch die verbreitete Faszination mit Griechenland wieder, das hier einer der Schauplätze ist und zu dem Ort wird, wo das Wissen über Vampire überliefert ist und wo das Übernatürliche unübersehbar in Aubreys Leben einbricht. (In Griechenland, das wir heute eher weniger mit Vampirgeschichten assoziieren, spielt auch „Die Braut von Korinth“ – und tatsächlich sind aus dem griechischen Altertum mehrere Sagen vampirischer Wesen überliefert, z.B. trinken Geister in der Odyssee Blut, um temporär ins Leben zurückzukehren, und haben es Wesen wie die Lamia oder Striges auf menschliches Blut abgesehen. Vor allem scheinen aber Schreibende der Romantik Griechenland und Italien gerne zu romantisierten, altertümlichen Orten zu machen, wo Realität und Mythos nicht so klar getrennt sind wie anderswo – in Eichendorffs „Marmorbild“ tritt hier z.B. eine heidnische Gottheit in Erscheinung). Die Tendenz der Figuren, schwer zu erkranken, wenn Schuld und Schreck zu viel werden, erinnert mich an „Frankenstein“.

Auch einige der unsympathischeren Trends der Zeit kommen im Buch durch – Damen der Gesellschaft werden als eitel, oberflächlich und allzu anfällig für Ruthvens Charme geschildert. Ianthe hingegen kommt besser und würdiger weg, weil sie naturverbunden, kindlich und unschuldig ist. Was sie jedoch nicht dafür bewahrt, für Plot und Gruselfaktor geopfert zu werden. Ein Brief Polidoris, welcher der Ausgabe von „The Vampyre“, die ich gelesen habe, beigefügt war, zeigt auch, dass der Autor kaum einer Frau zugesteht, Männern intellektuell gewachsen zu sein (gnädigerweise nimmt er Germaine de Stael von diesem Urteil aus).

Frauenfiguren scheinen so eine Schwachstelle der Literatur der Romantik zu sein. Selbst in „Frankenstein“, einem in vieler Hinsicht überraschend fortschrittlichen Roman, sind die sanften, aufopferungsvollen Frauen im Vergleich zu den moralisch ambigen Männern einfach langweilig.

Interessant ist, dass in „The Vampyre“ tatsächlich viele Eigenschaften des modernen Vampirs angelegt sind: Ruthven ist offensichtlich ein Außenseiter, aber er weiß Menschen zu faszinieren und zu beeinflussen. Er gibt sich aristokratisch, bewegt sich elegant in der Gesellschaft und tritt vor allem als Verführer in Erscheinung, vielleicht gerade weil er spürbar einen Fuß außerhalb der sozial akzeptierten Welt hat. Auch in seiner Beziehung zu Aubrey gibt es Anklänge davon. Ruthven kann sich von Verletzungen erholen, die einen Menschen getötet hätten (hier scheint es das Mondlicht zu sein, das ihn zurückbringt – eine Idee, die später in dem Fortsetzungsroman „Varney der Vampir“ aufgegriffen wird) und er ist unter zahlreichen Namen unterwegs. Auch das ist ein beliebter Trope in klassischen Vampirromanen, z.B. in Sheridan le Fanus „Carmilla“. 

Ruthven ist bei weitem keine positive, aber eine durchaus interessante Figur und scheint von Byron inspiriert zu sein, der ebenfalls ein skandalumwitterter, aber auch mit Faszination betrachteter Außenseiter war und in dem auch Züge der „byronischen Helden“ steckten, über die er geschrieben hat. 

Ist „The Vampyre“ heute noch lesenswert? Gute Frage. Mit gerade einmal 40 Seiten ist der Roman auf jeden Fall kurz genug, dass man für die Lektüre nicht allzu viel Zeit aufwenden muss, und er stellt ein interessantes Fenster in die Wertevorstellungen des frühen 19. Jahrhunderts und in die Ursprünge eines für lange Zeit sehr einflussreichen Vampir-Archetyps dar.


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Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt.  Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. 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