Rezension: Katja Petrowskaja - Vielleicht Esther

Swantje Niemann • 20. März 2018

Demütig, behutsam und zugleich beinahe verspielt erzählt Katja Petrowskaja von einer Reise auf den Spuren ihrer weit verstreuten Familie, die sie mit einigen der dunkelsten Kapitel der Geschichte des letzten Jahrhunderts konfrontiert.


Klappentext

Hieß sie wirklich Esther, die Großmutter des Vaters, die 1941 im besetzten Kiew allein in der Wohnung der geflohenen Familie zurückblieb? Die jiddischen Worte, die sie vertrauensvoll an die deutschen Soldaten auf der Straße richtete – wer hat sie gehört? Und als die Soldaten die Babuschka erschossen, ‚mit nachlässiger Routine‘ – wer hat am Fenster gestanden und zugeschaut? In Kiew und Mauthausen, Warschau und Wien legt Katja Petrowskaja Fragmente eines zerbrochenen Familienmosaiks frei – Stoff für einen Epochenroman, erzählt in lapidaren Geschichten. Die Autorin schreibt von ihren Reisen zu den Schauplätzen, reflektiert über ein zersplittertes, traumatisiertes Jahrhundert und rückt Figuren ins Bild, deren Gesichter nicht mehr erkennbar sind. Ungläubigkeit, Skrupel und ein Sinn für Komik wirken in jedem Satz dieses eindringlichen Buches.


Inhalt

Der Klappentext sagt es schon aus: Katja Petrowskaja recherchiert über die Vergangenheit ihrer Familie und fördert Episoden aus dem Leben von mehr als vier Generationen zu Tage. Sie wird immer wieder von der Vergangenheit überrascht und stößt auf Leerstellen und Widersprüche.

Das Interessante – und auch Gelungene – an dem Buch ist, dass die Erzählerin keinen Hehl aus ihrer subjektiven, an ihre Gegenwart gebundenen Perspektive macht. Die Ereignisse sind ungeordnet und es würde eine bewusste Anstrengung des Lesers erfordern, sie in eine chronologische Ordnung zu bringen, aber letztlich geht es auch gar nicht um chronologisch aufeinanderfolgende Ereignisse, sondern Menschen, die für einen Moment in der Vorstellung der Erzählerin wieder zum Leben erwachen und so Einblicke in ein vergangenes Jahrhundert geben.

Die Erzählerin nimmt angenehmerweise nicht für sich in Anspruch, für jemanden außer sich selbst zu sprechen und den Leser über seine Verpflichtungen und die einzig wahre Betrachtungsweise aufzuklären – im Gegenteil.

„Vielleicht Esther“ ist ein sehr persönliches Buch, in dem sie ausgiebig über die Vergangenheit und ihr Verhältnis dazu reflektiert und dem Leser an einer sehr individuellen Denk- und Erzählweise teilhaben lässt. Die Nähe, die ihr Schreiben erzeugt, ist nie unangenehm und ihre detaillierte Selbstbeobachtung ist kein narzisstisches Kreisen um sich selbst, sondern bereichernd zu lesen.


Figuren

Wahrscheinlich ist hier nur die Figur der Erzählerin zu nennen, welche immer wieder über sich und ihr Verhältnis zu den vergangenen Ereignissen reflektiert. Sie macht einen sympathischen, nachdenklichen und humorvollen Eindruck und findet einen ganz eigenen Stil, um ihre Geschichten zu erzählen.

Die Personen, über die sie erzählt, und denen sie während ihrer Recherche begegnet, haben immer nur kurze Auftritte, die sich aber durchaus ins Gedächtnis schreiben.


Stil

Die Sprache von „Vielleicht Esther“ ist verspielt und voller Anspielungen auf Mythologie und Literatur (viele davon wahrscheinlich nur für diejenigen verständlich, die wie die Autorin mit russischer Sprache und Literatur aufgewachsen sind, aber fließend Deutsch sprechen). Da es der Erzählerin offenbar darum ging, ihren Gedankenstrom so ungefiltert wie möglich darzustellen, gibt es zahlreiche Endlossätze. Häufig setzt sie Kommas wie Punkte ein (was auch passend ist, immerhin scheint sie einen gewissen Wiederwillen gegen allzu klare Abgrenzungen zu hegen). Auf den ersten Seiten stolpert man noch darüber, aber man gewöhnt sich rasch daran. Trotz der ungewöhnlichen Sprache ist „Vielleicht Esther“ leicht und unterhaltsam zu lesen und stellenweise sogar komisch.


Fazit

Obwohl ich für gewöhnlich relativ wenig aus dem Genre (wobei schwer zu sagen ist, um was für ein Genre es sich eigentlich handelt) oder mit dieser Thematik lese, hat mich „Vielleicht Esther“ überzeugt. Einerseits gelingt es dem Buch, auf emotionale Weise von vergangenem Geschehen zu berichten, andererseits weist es immer wieder darauf hin, dass sich dieses nicht vollständig rekonstruieren lässt und inszeniert diesen Widerspruch gekonnt.


Suhrkamp, März 2014

Imprint: Suhrkamp

ISBN: 9783518735848

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Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. 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