Rezension: Seanan McGuire: Every Heart a Doorway (Wayward Children, Buch 1)

Swantje Niemann • 20. März 2018

Eine einfühlsame und sprachlich schöne Fantasy-Novelle über Jugendliche, die in einer Welt Fuß fassen müssen, die ihnen fremd geworden ist.

Klappentext

Eleanor West’s Home for Wayward Children

No Solicitations

No Visitors

No Quests

Children have always disappeared under the right conditions; slipping through the shadows under a bed or at the back of a wardrobe, tumbling down rabbit holes and into old wells, and emerging somewhere… else.

But magical lands have little need for used-up miracle children.

Nancy tumbled once, but now she’s back. The things she’s experienced… they change a person. The children under Miss West’s care understand all too well. And each of them is seeking a way back to their own fantasy world.

But Nancy’s arrival marks a change at the Home. There’s a darkness just around each corner, and when tragedy strikes, it’s up to Nancy and her new-found schoolmates to get to the heart of things.

No matter the cost.


Handlung

Überall auf der Welt verschwinden Kinder durch Portale in Welten, die auf Wünsche tief in ihrem Inneren antworten. Es kann sich um Regenbogen-Zuckerwatte-Welten handeln, aber auch um dunklere Orte. Nancy war in einer griechisch anmutenden Unterwelt, deren Stille und Frieden sie lieben gelernt hat. Die Welt, in die sie zurückgestolpert ist, ist zu laut, zu heiß, zu schnell. Die Siebzehnjährige möchte nur ihren Eltern entkommen, die sie zwar lieben, aber nicht länger verstehen, und in die Welt zurückkehren, die ihr echtes Zuhause geworden ist. Doch das Portal, das sie einst durchgelassen hat, will sich nicht mehr öffnen.

Ihre verzweifelten Eltern schicken sie in „Eleanor West’s Home for Wayward Children“ – eine Einrichtung, die auf solche Fälle spezialisiert ist. Schulleiterin Eleanor war selbst in einer anderen Welt und will nun den Jugendlichen in ihrer Obhut helfen, entweder einen Weg zurück in ihre Welten zu finden oder aber zu akzeptieren, dass ihre Türen sich für immer geschlossen haben. Bei ein paar anderen Entscheidungen Eleanors fragt man sich manchmal, ob diese wirklich so gut für die Schüler sind. Trotzdem wird deutlich, dass die Internatsleiterin sich aufrichtig um die gestrandeten Jugendlichen sorgt und es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat, ihnen zu helfen.

In dem Internat trifft Nancy auf die chaotische Sumi, auf Kade, der aus einer Elfenwelt verbannt wurde, weil deren Bewohner nur Mädchen dulden, Kade sich selbst aber als Jungen sieht, und auf die Zwillinge Jack und Jill, deren Heimatwelt an einen Gothic Novel erinnert: Jack hat bei einem verrückten Wissenschaftler gelernt, Körper auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, Jill war die Gefährtin eines Vampirfürsten.

Gemeinsam versuchen die Jugendlichen, irgendwie den Alltag in einer Welt zu überstehen, die ihnen fremd geworden ist. Ihre Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen und ihre Gespräche miteinander würden eigentlich schon reichen, dieses Buch zu tragen, weil die Grundidee so spannend und so gut umgesetzt ist: Was geschieht mit den Kindern, die aus anderen Welten zurückgekehrt sind, aber von ihrer Zeit dort verändert wurden?

Doch plötzlich wird das Internat von einem Verbrechen erschüttert: Ein Mädchen wird tot gefunden. Ihre Hände sind abgeschnitten. Sie ist nicht die letzte Tote. Angst und Verdächtigungen vergiften die Atmosphäre und Eleanors Schützlinge müssen fürchten, dass der einzige Ort, wo sie Verständnis finden, ihnen nicht mehr lange eine Zuflucht sein wird.


Figuren

Viele Figuren sind gleichzeitig einprägsam und einfühlsam geschildert, insbesondere, wie sie immer wieder in Verhaltensmuster zurückfallen, die in ihren Heimatwelten lebensrettend waren, aber in der Alltagswelt seltsam oder völlig inakzeptabel sind. Es tut gut, zu lesen, wie zwischen Nancy, Jack, Kade und schließlich auch dem Jungen Christopher, der in einer Welt voller tanzender Skelette war, eine zaghafte Freundschaft aufkeimt. Diese sehr verschiedenen Menschen akzeptieren und helfen einander, weil sie sich zwar nach sehr verschiedenen Dingen sehnen, aber diese Sehnsucht gemeinsam haben.

Auch ihre Persönlichkeiten sind sehr verschieden. Jack ist stets sachlich und in jeder Situation ganz die Wissenschaftlerin, auch wenn man dahinter eine gewisse Verletzlichkeit erahnen kann. Nancy ist sanft und nachdenklich, aber erweist sich als tatkräftig und loyal, wenn es nötig ist. Kade ist von seinen Erfahrungen verbittert, aber trotzdem stets ein verständnisvoller Freund, wenn andere seine Hilfe brauchen.

Kade ist transgender und Nancy asexuell. Es ist McGuire gut gelungen zu schildern, wie dies das Leben der Figuren in vielerlei Hinsicht beeinflusst, ohne sie aber zu definieren.


Stil

„Every Heart a Doorway“ ist meist, aber nicht ausschließlich aus Nancys Perspektive erzählt und in einem schönen, poetischen Stil geschrieben. McGuire beschwört einige düstere, abgedrehte, aber zugleich seltsam schöne Bilder herauf. Trotzdem hält sie auch die Balance zwischen einem sehnsüchtigen, träumerischen Ton und Humor, da ihre Figuren oft selbst zur Sprache bringen, wie seltsam sie durch ihre Aufenthalte in anderen Welten geworden sind. Jacks Erfahrungen in ihrer Welt und ihre Vertrautheit mit dem Tod beschwören eine Reihe makaber-komischer Dialogsituationen herauf.


Fazit

„Every Heart a Doorway“ ist mit gerade mal 150 Seiten eine kleine, in sich geschlossene Novelle. Es spricht für das Buch, dass ich mir wünsche, dass diese atmosphärische, charakterzentrierte Geschichte länger wäre.


Tor.com, April 2016

Imprint: Tor.com

ISBN: 9780765383877

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Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. 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