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Rezension: Mary Shelley - Frankenstein (Hrsg. J. Paul Hunter)

Swantje Niemann • März 20, 2018

Mary Shelleys "Frankenstein" ist auch 200 Jahre nach der Erstveröffentlichung atmosphärische, verblüffend modern wirkende und zum Nachdenken anregende Lektüre.


Klappentext

Almost two centuries after its publication, Frankenstein remains an indisputably classic text and Mary Shelley’s finest work.


Handlung

Arktis-Forscher Walton strandet bei einer waghalsigen Expedition im Eismeer – und findet dort, was er nicht erwartet hätte: einen einsamen Reisenden, dem er das Leben rettet und der sich als Victor Frankenstein vorstellt. Langsam erholt er sich ein wenig von den erlittenen Strapazen und ist schließlich in der Lage, Walton seine unglaubliche Geschichte zu erzählen.

Er berichtet von seiner Kindheit, seiner Faszination für Alchemie und wie er sich schließlich vorgenommen hat, das Geheimnis des Lebens zu ergründen. Doch das Resultat seiner Forschungen ist nicht, was er sich erhofft hat. Als er zum ersten Mal versucht, einen künstlichen Menschen, den er aus Leichenteilen zusammengestückelt hat, zum Leben zu erwecken, ist das Ergebnis eine Kreatur mit übernatürlicher Stärke und einem derart abstoßenden Äußeren, dass Viktor den Anblick seiner Schöpfung nicht ertragen kann. Entsetzt wendet er sich von der Kreatur ab und kehrt zu seiner Familie zurück.

Doch Viktors düstere Ahnungen, dass seine Taten ihn einholen werden, bestätigen sich. Aber er täuscht sich auch: Statt an ihm persönlich Rache zu nehmen, greift die Kreatur die Menschen an, die er liebt. Viktor muss erkennen, dass er sich einen unerbittlichen Feind geschaffen hat.

Aber obwohl Shelley durchaus nicht über Schockeffekte erhaben ist, ist die Geschichte mehr als bloßer Horror, wirft sie doch einige Fragen auf, die den Leser noch lange nach der Lektüre beschäftigen. Dank der Form der Erzählung (Waltons Briefe an seine Schwester bilden den Rahmen, darin eingeschlossen ist Viktors Erzählung und in diese wiederum ist die Erzählung der Kreatur eingebettet) kommen drei Ich-Erzähler zu Wort.

Dass der Kreatur eine Stimme gegeben wird, ist eine der besten Entscheidungen des Romans, denn sie hat eine herzzerreißende Geschichte zu erzählen: Dass Viktor sich angewidert von ihr abgewendet hat, ist nur der Beginn einer Serie von Enttäuschungen, Zurückweisungen und unprovozierten Angriffen. Vor diesem Hintergrund wird ihr zerstörerischer Zorn verständlicher und es scheint nur zu wahrscheinlich, dass die Geschichte einen völlig anderen Verlauf hätte nehmen können, wenn Viktor sich bloß seiner Verantwortung gestellt und sein Geschöpf nicht allein gelassen hätte.


Figuren

Mary Shelley stellt uns zahlreiche Figuren vor, von denen wir einige gut kennenlernen. Waltons Persönlichkeit spiegelt sich in seinen Briefen gut wieder und seine Begeisterung für seine Unternehmung und seine Sehnsucht nach Freundschaft und Austausch machen ihn sympathisch. Es gibt auch zahlreiche Nebenfiguren, von denen mit wenigen Worten ein präzises Bild gezeichnet wird.

Aber es gibt wahrscheinlich keine Figur, der man im Laufe der Geschichte so lange so nahe ist wie Viktor Frankenstein. Der Leser begleitet ihn beim Aufwachsen und dabei, wie er die Welt der Wissenschaft für sich entdeckt. Obwohl er vielleicht ein wenig zu ehrgeizig ist, beginnt Viktor die Geschichte als ein Charakter mit Identifkationspotenzial und er ist und bleibt aufrichtig besorgt um seine Freunde und Familie – oft wünscht er sich, die Kreatur würde ihn selbst zur Zielscheibe ihrer Rache machen, wenn bloß sie verschont blieben. Viktor trifft jedoch auch oft fragwürdige Entscheidungen und hat Momente des Selbstmitleids und der Selbstgerechtigkeit, in denen er alles andere als sympathisch ist.

Eine weitere faszinierende Gestalt ist die Kreatur, die in den Jahren, in denen Viktor sie zu vergessen versucht, lernen muss, in einer feindseligen Welt zu überleben. Sie erzählt, wie sie sprechen gelernt und lässt Leser die menschliche Gesellschaft durch die Augen eines Wesens erleben, das sie zum ersten Mal sieht. Die Eloquenz, mit der die Kreatur von sich und ihren verletzten Gefühlen zu sprechen weiß, steht im Gegensatz zu ihrer Erscheinung, und ruft oft Mitgefühl für ihre Einsamkeit und die ungerechte Behandlung wach, die sie erfährt. Trotzdem ist sie auch abstoßend, beängstigend und eine nicht zu unterschätzende Macht der Zerstörung, die ihren Hass und ihre Enttäuschung an Unschuldigen auslässt.

Viktor und seine Schöpfung haben beide das Potential, Gutes zu tun, aber auch ihre dunklen Seiten, und das macht sie zu spannenden Figuren. Gerade die Geschichte der Kreatur wirft Fragen von der Verantwortung der Wissenschaft und der Einflüsse der Umwelt bei der Entwicklung eines Menschen auf.

Deutlich weniger interessant sind leider Figuren wie die Angehörigen der De-Lacey-Familie, von denen die Kreatur „menschliches“ Verhalten lernt, oder Viktors Cousine und Verlobte Elizabeth – idealisiert dargestellte Figuren, die gerade durch ihren Mangel an Fehlern nicht in der Lage sind, den Leser in ihren Bann zu ziehen.

Stil

Die Handlung von „Frankenstein“ schreitet langsamer voran, als man es von zeitgenössischen Büchern gewohnt ist, aber ist (meistens) trotzdem nicht langweilig. Die Struktur von Geschichten, die in wieder andere Geschichten eingebettet sind, lässt viele Figuren zu Wort kommen. So wird der Roman so komplexer und das Geschehen von vielen Seiten beleuchtet.

Shelleys Sprache liest sich angenehm. Gekonnt setzt sie Beschreibungen von Landschaften und Wetter ein, um eine dichte, oft unheilschwangere Atmosphäre zu erzeugen. Sie bindet auch viele Zitate aus anderen Büchern und Gedichten ein. Mein Favorit ist folgender Auszug aus Coleridges „Ancient Mariner“, an den Viktor sich erinnert fühlt, als er ahnt, dass seine Kreatur ihn schließlich heimsuchen wird:

Like one who, on a lonely road

doth walk in fear and dread,

and, having once turn’d round, walkso on,

and turns no more his head,

because he knows a frightful fiend

doth close behind him thread.


Ausgabe

Die „Norton Critical Edition“ enthält nicht nur den Roman selbst (tatsächlich macht er mit seinen etwa 160 Seiten weniger als die Hälfte des Buches aus), sondern auch ein ausführliches Vorwort, Textquellen aus der Zeit, in der das Buch geschrieben wurde, und verschiedene Essays mit Deutungsansätzen. Für diese Ausgabe wurde die allererste Auflage von „Frankenstein“ verwendet, nicht die spätere, noch einmal überarbeitete Version.


Fazit

Mary Shelleys „Frankenstein“ ist verblüffend unterhaltsam und modern. In dem womöglich ersten Science-Fiction-Roman finden sich Fragen und Ideen, die auch in zeitgenössischer Literatur eine große Rolle spielen, weil sie so spannend zu erkunden sind. Der Roman weist ein paar Längen auf und einige Nebenfiguren sind in ihrer einseitig positiven Darstellung ziemlich langweilig. Dafür stehen aber mit Frankenstein und seiner Kreatur zwei voll entwickelte, faszinierende Charaktere im Mittelpunkt.


„Frankenstein“ ist in diversen Übersetzungen auf Deutsch erschienen.


Norton & Company (2012)

Herausgeber: J. Paul Hunter

ISBN: 978-0-393-92793-1

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Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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