Blog Post

Schreiben: Tipps & Analysen - Antiheld*innen

Swantje Niemann • Dez. 15, 2018

Antiheld(*inn)en faszinieren - aber gleichzeitig riskieren sie immer wieder, die Sympathie des Publikums zu verlieren.


Fantasy war meiner Erfahrung nach nie ein Genre, bei dem die Hauptrollen ausschließlich von strahlenden Held*innen besetzt wurden, aber ich kann schon sehen, wieso es einen mittlerweile wieder abflauenden Trend gibt, möglichst "graue" Figuren ins Zentrum von Romanen zu stellen. Schließlich sind es solche Charaktere, die a.) Dinge erledigt bekommen, egal wie hoch der Preis ist (sie stellen ja sowieso sicher, dass ihn jemand anders zahlt) und b.) das Publikum immer wieder zwingen, seine Einstellung zu ihnen in Frage zu stellen. Es ist genau diese Ambivalenz, die Mischung aus Faszination, Sympathie und Abscheu (und vielleicht noch der kathartische Effekt dessen, einer Figur dabei zuzusehen, wie sie sich z.B. komplett ihrer Wut überlässt), die ihre Faszination ausmacht. Joe Abercrombies „Klingen“-Romane und G.R.R. Martins „Lied von Eis und Feuer“ wurden enthusiastisch dafür gelobt, dass sie Figuren in den Mittelpunkt stellen, die nicht nur auf den ersten Blick ziemlich unsympathisch sind, und sie gleichzeitig plastisch, entwicklungsfähig und differenziert gestalten.
ABER: Gute Antiheld*innen oder un-/amoralische Protagonisten zu schreiben ist nicht einfach. Mittlerweile ist es auch nicht mehr annähernd neu genug, um innovativ oder provokant zu wirken. Es besteht immer die Gefahr, dass ein(e) Leser*in das Buch nach ein paar Seiten in die Ecke wirft, weil er/sie die Hauptfigur nicht ausstehen kann und ihm/ihr dementsprechend egal ist, ob sie bekommt, was sie will. Meiner Erfahrung nach versetzten sich Leser*innen beim Lesen gerne in jeden halbwegs sympathischen Charakter, sogar in Figuren, die relativ wenig Charakter haben (auch wenn Letzteres durchaus negativ auffällt), aber unsympathische oder unmoralische Handlungen brauchen schon ein Gegengewicht, damit die Identifikation oder das Interesse erhalten bleiben.
Was sind also die Eigenschaften, die Leser*innen dazu bringen, mehr Zeit mit einem „unmoralischen“ Charakter verbringen zu wollen?

Anmerkung: Der Begriff "Antiheld*in" ist eigentlich relativ weit gefasst und meine ursprünglich einfach nur eine Hauptfigur, die nicht die typischen Heldencharakteristika (Mut, Tatkraft, Ehrlichkeit, etc.) aufweist. Mittlerweile wird der Begriff jedoch häufiger in Bezug auf Figuren verwendet, die zwar sehr aktiv und kompetent sind, aber regelmäßig gegen gängige Moralvorstellungen verstoßen. Das ist die Definition, die ich auch in diesem Artikel verwende.

5 Eigenschaften, die vielleicht nicht die Sympathie, aber wenigstens das Interesse des Publikums wecken

A.) Eine Möglichkeit ist es, die Hauptfigur als immer noch deutlich besser als ihre Gegenspieler*innen darzustellen und ihr sympathische Ziele und Momente zu geben (oder zumindest Gegenspieler, die sie und ihre Handlungen als kleineres Übel erscheinen lassen). Zum Beispiel brennt Lucio aus „Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte“ eine ganze Stadt nieder, um zu verhindern, dass sich die Pest im ganzen Land ausbreitet. Er ist kein sympathischer Charakter, aber seine Motivation ist nachvollziehbar und er schont auch sich selbst nicht.

B.) Ich habe tragische Vergangenheit en oft sehr plump und übertrieben gestaltet gesehen, aber wenn es gelingt, eine Figur auf überzeugende Weise als ein Produkt ihrer Lebensumstände darzustellen, hilft das sehr dabei, Leser*innen auf ihre Seite zu ziehen. Zum Beispiel lässt die Vorgeschichte von Essun aus „Zerrissene Erde“ von N.K. Jemisin ihre Handlungen glaubwürdig und nachvollziehbar erscheinen. Mark Lawrence macht das ebenfalls sehr gut, indem er in „The Liar’s Key“ mit ein paar Rückblicken in die Vergangenheit der „Red Queen“ zeigt, welche Erlebnisse die unnachgiebige Herrscherin geformt haben.

C.) Selbstreflexion. Zumindest ich bevorzuge Figuren, die ihr eigenes Handeln immer wieder kritisch beleuchten. Mich stört wenig mehr als ein(e) Protagonist*in der/die sich einen Haufen fragwürdiger Aktionen leistet, ohne auch nur für eine Sekunde in seiner/ihrer selbstgerechten Gewissheit erschüttert zu werden. Solche Figuren sind als Gegenspieler/ unsympathische Nebenfiguren okay, aber ich würde ungern für die Dauer eines ganzen Romans in ihrem Kopf bleiben, falls sie sich nicht weiterentwickeln.

D.) Kompetenz. Nahezu alle Antiheld*innen oder Antagonist*innen, die eine große Fangemeinde haben, sind sehr gut in dem, was sie tun. Ein gutes Beispiel hierfür ist Locke Lamora aus "Die Lügen des Locke Lamora" von Scott Lynch - er versucht, nichtsahnende (und recht sympathische) Menschen um ein gewaltiges Vermögen zu betrügen, aber es war einfach zu interessant, die Umsetzung seiner raffinierten Pläne zu beobachten, als dass ich das Buch weggelegt hätte.

E.) Charme. Unser(e) Antiheld*in ist eine Person von beeindruckender Präsenz/ hat eine Erzählstimme, die eine(n) unweigerlich in ihren Bann zieht/ macht Witze, über die man eigentlich nicht lachen sollte, die in ihrer grimmigen Präzision einfach zu gut sind, um es nicht zu tun – alles Eigenschaften, die eigentlich bewundernswert sind, und die in Kombi damit, dass sie durch nicht besonders viel Gewissen/ Respekt für soziale Konventionen ausbalanciert werden, noch beeindruckender erscheinen. Hier würde ich wieder „Red Queen’s War“ als Beispiel nennen – Jalan macht sich keine Illusionen darüber, dass er ein egoistischer Feigling ist, und seine Handlungen erinnern Leser*innen immer wieder daran, aber das ändert nichts daran, dass er ausgesprochen unterhaltsam erzählt.

Weitere Ressourcen zum Thema
Auch auf der Seite "Mythcreants" gibt es Tipps zur Erschaffung glaubwürdiger und individueller Antheld*innen.
Und diese Episode von "Writing Excuses" ist nicht nur lehrreich, sondern lohnt sich allein schon wegen ihres Unterhaltungswerts.

Ich hoffe, das sind hilfreiche Tipps. Welche Bücher mit Antiheld*innen haben euch in letzter Zeit überzeugt? Oder ist es euch wichtig, dass die Protagonist*innen der Bücher, die ihr lest, sich doch näher am heroischen Pol des Spektrums einsortieren?

Vier der im Beitrag beschriebenen Bücher in einem weißen Regal
von Swantje Niemann 28 Dez., 2023
Ich habe dieses Jahr wieder einige Bücher entdeckt, die ich nur zu gerne weiterempfehle.
Bild einer etwas krakeligen Mindmap
von Swantje Niemann 20 Nov., 2023
Gleich noch ein spannendes Team-Projekt!
Cover des Romans
von Swantje Niemann 04 Nov., 2023
"Königsgift" und seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte
Die Bücher
von Swantje Niemann 22 Apr., 2023
Die Liste der Bücher, die sich mir 2022 eingeprägt haben, ist mal wieder sehr lang geworden. Hier sind ein paar davon: Fantasy 2022 habe ich die „Green Bone“-Saga beendet und zusätzlich die Novelle „The Jade Setter of Janloon“ gehört. Fonda Lee führt die Geschichte um den No-Peak-Clan zu einem sehr befriedigenden Ende und weitet immer weiter aus, wie viel von ihrer sehr modern und realistisch anmutenden Sekundärwelt ihre Geschichte abdeckt. Sie schreibt charismatische, moralisch ambige Figuren, die sich beim Lesen ins Gedächtnis schreiben und deren Überzeugungen und Charakterzüge überzeugende Wechselwirkungen mit ihrer Gesellschaft haben. Ich habe im letzten Jahr auch den bisher neuesten Band der „Masquerade“-Reihe von Seth Dickinson gelesen. „The Tyrant Baru Cormorant“ ve rvollständigt das relativ unbefriedigende „The Monster Baru Cormorant“ zu einem schließlich doch sehr überzeugenden Ganzen. Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
Print-Ausgaben von
von Swantje Niemann 13 Apr., 2023
Zwei sehr verschiedene Bücher erzählen beide in der ersten Person. Ich schaue mir mal genauer an, was ihren Ansatz dabei unterscheidet und wieso das in beiden Fällen sehr gut funktioniert.
Titelseite einer Ausgabe von
26 Nov., 2022
Zusammenfassung, Rezension und ein bisschen Literaturepochen-Kontext
Rostige Krone liegt auf Moos
von Swantje Niemann 12 Sept., 2022
Ein paar Überlegungen zu einem Lieblingstrope des Fantasygenres.
Aufgeschlagenes Notizbuch mit schwarzem Papier, in das viele kleine Buchcover eingeklebt sind
von Swantje Niemann 12 Aug., 2022
Eine kleine Reflektion über Buchjournals, Rezensionen und dergleichen
Alte Bücher in einem Regal
von Swantje Niemann 10 Juli, 2022
Fantasy, auch solche in von der Vergangenheit inspirierten Settings, kann Geschichte nicht einfach kopieren. Trotzdem ist die Beschäftigung damit mitunter eine echte Bereicherung fürs Schreiben.
Die Bücher
von Swantje Niemann 03 Juni, 2022
5 Buchtitel, die sofort meine Neugier geweckt haben.
Weitere Beiträge
Share by: