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Don’t do writing, kids

Swantje Niemann • Juli 10, 2020
Zusammengeknülltes Papier neben einem Notizblock.
Bild: Steve Johnson auf Pixabay
Schreiben kann erfüllend und manchmal therapeutisch sein. Trotzdem geben mir Artikel anderer Autor*innen und mein sehr schreibendenlastiger erweiterter Online-Bekanntenkreis das Gefühl, dass Depressionen, Angststörungen usw. unter Autor*innen besonders verbreitet sind. Das kann natürlich verschiedene Gründe haben – vielleicht sind Menschen, die gut darin sind, Verständnis erzeugende Texte zu schreiben, eher geneigt, über solche Erfahrungen zu sprechen, und vielleicht sind auch Menschen aus Millieus überrepräsentiert, in denen psychische Krankheiten nicht so stigmatisiert sind. Ich weiß also nicht mal, ob es eine Korrelation gibt und möchte auch nicht über Kausalitäten spekulieren.
ABER: Ich denke, dass es wichtig ist, darüber zu sprechen, wieso das Schreiben und Veröffentlichen literarischer Texte mit Belastungen verbunden sein kann, die eventuell bestehende psychische Verletzlichkeiten verschlimmern. Denn, wenn ich ein sehr persönliches Geheimnis preisgeben darf: Für mich ist Schreiben in den letzten anderthalb Jahren eher eine Quelle von Stress als von Stolz gewesen und hat alles, was in meiner Psyche nicht so toll lief, schlimmer gemacht, und ich habe den Verdacht, dass es auch anderen zumindest manchmal so geht.
Was also sind Aspekte des Autor*innenlebens, welche die Entscheidung für diesen Job fragwürdig erscheinen lassen? Ich will die positiven Aspekte und schönen Erfahrungen, die auch damit einhergehen, nicht leugnen, aber dieser Artikel dient dazu, Stress und Enttäuschung Raum zu geben. Außerdem bin ich gerade übermüdet und habe milde Kopfschmerzen. Also stellt euch auf eine Menge – vielleicht notwendiger – Negativität ein. Bitte versteht das auch nicht als Aufforderung, mich zu bemitleiden. Dafür gibt es angesichts dessen, wie viel Glück ich an unzähligen Punkten in meinem Leben hatte, keinen Anlass. Ich liste nur ein paar Sachen auf, auf die ich gerne besser vorbereitet gewesen wäre bzw. die meiner Meinung nach von vielen Schreibenden unterschätzt werden.

1. Schreiben als Niedriglohnjob
Erfolgsgeschichten von Menschen, deren Bücher in Millionenauflage erscheinen oder die reichen Autor*innen, die man in so einigen Filmen und Büchern trifft, wecken hohe Erwartungen. Nicht umsonst darf das „Wann schreibst du deinen ersten Bestseller/ wirst du reich und berühmt/ verkaufst du die Filmrechte“-Feld auf keinem „Dinge, die Leute zu Autor*innen sagen“-Bullshit-Bingo fehlen. 
Die Realität sieht anders aus, ganz besonders außerhalb des englischsprachigen Buchmarkts mit seinem riesigen Pool potentieller Leser*innen. Selbst Bestsellerautor*innen verdienen nur sehr bescheiden. Dazu kommt noch, dass der Erfolg eines Buches kaum kalkulierbar ist, es sei denn natürlich, man hat bereits Ruhm und ein großes Marketingbudget hinter sich. Schreiben ist also für viele Autor*innen eher etwas, das sie mit Einnahmen aus einem anderen Job querfinanzieren, und fällt gelegentlich in diesen unkomfortablen Zwischenraum zwischen Arbeit und Hobby. Zu sehr Arbeit, um es so entspannt und genüsslich wie ein Hobby zu praktizieren, aber dahingehend wie ein Hobby, dass man nicht mal in die Nähe einer normalen Kompensation für investierte Arbeitszeit kommt.
Und wenn dann auch noch der andere Job anstrengend ist oder nur wenig Geld bringt, ist das ein Rezept für ein prekäres und entsprechend stressreiches Leben. Für mich ist das dank einer Familie, welche die Mittel hat, um mich großzügig zu unterstützen, zum Glück kein Problem, aber es dürfte das Leben so einiger Kolleg*innen sehr viel schwerer machen, als so manche*r Leser*in, di*er sich über hohe Buchpreise beschwert, ihnen zugestehen will. 
Ich bin sehr froh, dass ich nicht hauptberuflich schreibe, weil ich nicht mit dem Druck umgehen könnte, schnell ein Buch nach dem anderen zu produzieren, damit ich und von mir abhängige Menschen weiter die Miete bezahlen können. 
Darüber hinaus ist Bücher schreiben zwar nicht so teuer wie andere Unternehmungen, aber erfordert trotzdem Investitionen, die nicht notwendigerweise durch Gewinne ausgeglichen werden. Als Verlagsautorin muss ich nicht für Cover und Lektorate zahlen, aber habe z.B. Ausgaben für meine Website, Messebesuche und Sensitivity-Reading. 

2. Einsamkeit
Es ist mittlerweile eine Art Klischees, dass Autor*innen im Nachwort ihrer Bücher betonen, dass Schreiben nur für eine einsame Arbeit gehalten wird, aber in Wahrheit ein Teamsport ist. Das ist natürlich wahr – sobald das Manuskript fertig ist, kommen Lektor*innen, Coverdesigner*innen usw. ins Spiel, und bereits vorher sind Freund*innen, Familie und, wenn Autor*innen gut vernetzt sind, auch Beta-Leser*innen ins Spiel. Wie viele andere Schreibende habe ich eine Menge Menschen, denen ich Dank schulde, weil sie direkt oder indirekt zur Veröffentlichung meiner Romane beigetragen haben.
Aber Schreiben kann trotzdem ein sehr einsamer Prozess sein. Irgendwann ist auch das geduldigste Familienmitglied vom lauten Nachdenken über das eigene Buch genervt, und viele Probleme sind so spezifisch, dass sie zu erklären viel zu lange dauern würde. Zweifel an bestimmten Plotentscheidungen und am Schreiben selbst können langweilig oder schwer nachvollziehbar sein, und ein Großteil der Arbeit findet allein am eigenen Schreibtisch statt. Teilweise muss auch Zeit dafür durch Verzicht auf soziale Events freigeschaufelt werden. 

3. Vergleiche und Leistungsdruck
Wie viele andere Autor*innen habe ich online meine Bubble von Leuten gefunden, die auch schreiben. Und viele von ihnen schreiben besser, mehr und erfolgreicher als ich. Während es mir vor fünf Jahren noch wie eine große Leistung vorkam, einen Roman zu beenden, erscheint es mir jetzt eher wie das absolute Minimum, was man können sollte, und nahezu bedeutungslos. 
Wir haben wahrscheinlich alle schon mantrenhaft wiederholt gehört, dass es eine schlechte Idee ist, sich mit dem zu vergleichen, was andere online von sich erzählen, aber in der Realität funktioniert das nicht besonders gut. Andere Leute sind talentierter, fleißiger, geistreicher und kritischer als ich oder haben bessere Ausgangssituationen, um über bestimmte Themen/ überhaupt zu schreiben, und das ist eine Realität, mit der ich leben muss. 
Darüber hinaus ist Leistung nicht nur auf dem Gebiet des Schreibens gefordert – unabhängig davon, wie unwohl sie sich damit fühlen, wird von den meisten Autor*innen erwartet, dass sie Werbung für ihre Bücher machen. Dass gilt für Verlagsautor*innen ebenso wie für Selfpublisher*innen.

4. Schreibblockaden
Schreibblockaden, werden so einige Menschen erzählen, gibt es nicht. Es wäre schön, wenn sie das dem Grund dafür erzählen würden, wieso ich zwar in zwei bis vier Monaten einen Roman schreiben kann, aber trotzdem derzeit maximal einen pro Jahr. Klar, Disziplin, Entschlossenheit, Übung und ein gutgefüllter literarischer Werkzeugkasten bewirken eine Menge und passiv auf Inspiration zu warten ist keine Lösung, aber es kann immer wieder Gründe in jemandes Psyche oder Lebensumständen geben, wieso es mit dem Schreiben nicht klappt. Oder plötzlich kann ein angefangenes Projekt in sich zusammenfallen. Und es ist wirklich belastend, schreiben zu wollen, und es dann doch nicht zu können. Das sind die Tage, an denen ich entschieden zu viel Zeit auf verschiedenen sozialen Medien verbringe, weil ich theoretisch schreiben sollte, mich also nicht auf etwas anderes wie z.B. Lesen oder Lernen einlassen kann, aber auch nicht mit dem Manuskript vorankomme.
Dieser Zustand ist zwar meist nicht von Dauer, aber extrem belastend, so lange er vorherrscht. Denn Schreiben ist eine dieser Tätigkeiten, die viel zu schnell Teil der eigenen Identität werden. Die Unfähigkeit, das zu machen, stellt somit eine wichtige Gewissheit über mich selbst in Frage.

5. Kritik
Ich amüsiere mich gelegentlich darüber, dass einige der empfindsamsten Menschen die ich kenne Monate in Texte stecken, in denen sie über Ideen schreiben, die ihnen wichtig sind, und kleine Bruchstücke von sich selbst in den Figuren verarbeiten – und dies dann der öffentlichen Bewertung preisgeben. 
Und teilweise haben die Leute, die ihre Bücher bewerten, auch ein Interesse daran, jede Kritik zu scharf wie möglich rüberzubringen. Youtube bietet mir regelmäßig Rage-Reviews, gehässige Parodien usw. an, einfach weil das die Dinge sind, die viel geklickt werden, und auch Twitter belohnt Hot Takes. Rezipient*innen haben natürlich das Recht jede Meinung auf die Art zu vermitteln, die ihnen am meisten Spaß macht/ am angemessensten erscheint, und Autor*innen sind nicht gezwungen, darauf zu reagieren (bzw. sollten das in den meisten Fällen gar nicht). Also ist es auf jeden Fall ein Teil des Jobs, den eigenen Text, und manchmal auch die eigene Person dieser Behandlung preiszugeben, und gleichzeitig selbst immer reflektiert und verantwortungsvoll aufzutreten, weil man entweder tatsächlich mehr Reichweite und Einfluss hat als die kritisierende Person oder zumindest so wahrgenommen wird, als hätte man sie. Und Ruhe zu bewahren ist nicht immer einfach. Ich kenne eine Autorin, die durch ihren ruhigen, reflektierten Umgang mit einer ziemlich vernichtenden Rezension mehr Respekt gewonnen als verloren hat. Aber ebenso haben sich Leute, die ansonsten einen eher beherrschten, selbstbewussten Eindruck machen, angesichts von Kritik zu unklugen, defensiven Reaktionen hinreißen lassen, die weitere Probleme für sie und andere aufgeworfen haben.
Noch schlimmer wird es, wenn Kritik gerechtfertigt ist. Manchmal hat man tatsächlich beim Schreiben ziemlichen Mist gebaut, und dann gilt es, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Das fällt dann in die Kategorie „notwendig, aber belastend.“

6. Verantwortung
Gelegentlich muss die Kritik auch gar nicht von außen kommen. Alle ein bis zwei Wochen liege ich stundenlang wach, weil ich über Momente nachdenke, in denen ich als Autorin und Lektorin versagt habe, überlege, wie ich das irgendwie im Nachhinein reparieren kann/was ich machen müsste, um das auszugleichen, und fühle mich wie eine ziemliche Hochstaplerin angesichts des Respekts, den mir manche Leute entgegenbringen. Und auch meinen künftigen Projekten sehe ich mit einer gewissen Nervosität entgegen. 
Ich habe vor einer Weile im Radio den Begriff der „Moral Fatigue“ gehört – da allerdings in Bezug auf Einkaufen in Zeiten von Corona. Es ging darum, wie etwas, das eigentlich eine Routinetätigkeit ist, plötzlich eine Menge Aufmerksamkeit erfordert, weil es mit dem Risiko einhergeht, anderen Schaden zuzufügen. So ähnlich ging es mir mit dem Schreiben. Binnen weniger Jahre hat sich mein Blick auf die soziale Verantwortung Schreibender und die Implikationen fiktionaler Geschichten sehr verändert, und damit auch mein Blick auf meine eigenen Texte. Mein Fokus liegt mittlerweile stärker darauf, wie ich es vermeiden kann, anderen Leuten mit meinen Texten zu schaden, als dass sie eine Quelle von Spaß und Stolz sind. Gerade zu meinen früheren Werken bin ich innerlich weit auf Distanz gegangen, und empfinde keine Zufriedenheit mehr, wenn ich daran denke. Tja, Risiken und Nebenwirkungen des Dazulernens.
Natürlich ist es nicht annähernd so schwer, ein Buch zu schreiben, das Menschen mit den verschiedensten Hintergründen respektvoll repräsentiert und nicht unfreiwillig fragwürdige Botschaften aussendet, wie gerne behauptet wird. Aber gleichzeitig sind eine Menge fragwürdige Ideen in unserer Gesellschaft und Literatur so normalisiert, dass sie sich schnell in Texte einschleichen, und habe ich wie die meisten anderen Menschen auch Wissenslücken, die dazu führen, dass mir nicht immer alle Kontexte und Assoziationen für alles, was ich schreibe, bekannt sind. 
Aus der Rolle der/des/* stolzen Schöpfer*in in die der/des/* Beauftragten für Schadensbegrenzung zu wechseln und das eigene Werk aus dieser Perspektive zu betrachten ist auch wieder eine dieser Sachen, die ein unvermeidlicher Teil des Jobs, aber emotional nicht ganz mühelos zu verarbeiten sind. Dass es mir persönlich schwerfällt, diese Rolle wieder zu verlassen und zu Stolz und Zufriedenheit zurückzufinden, mag nicht repräsentativ sein, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es einzigartig ist.

7. Scheitern
Aber was, wenn das Buch geschrieben ist, exakt das ausdrückt, was es ausdrücken soll, und wirklich gut ist? Wenn es rechtzeitig fertig wurde? Der eigene Umgang mit Kontexten, Themen, Verlagsmitarbeiter*innen, Rezensent*innen und Kolleg*innen mustergültig ist? Wenn du also alles richtig machst – und trotzdem scheiterst, weil sich einige Dinge einfach deinem Einfluss entziehen?
Denn genau das kann passieren. Auf Buchmärkten gibt es Trends, und auch Entwicklungen außerhalb der Literaturwelt können beeinflussen, was veröffentlicht und was gelesen wird. Z.B. beeinflusst die finanzielle Lage eines Verlags, welche Risiken dieser eingehen kann. Oder der Verlag selbst kann nicht vertrauenswürdig sein – allein 2019 stellte sich heraus, dass zwei Verlage ihre Autor*innen belogen hatten und nicht länger bezahlten. Ebenso kann ein unglücklich gewähltes Cover dazu führen, dass ein Buch nicht von seinem Zielpublikum gefunden wird. Oder das Buch erscheint einfach zur falschen Zeit. Ebenso gibt es auch Genres, die sich einfach nicht aus ihren Nischen befreien können, wie z.B. Steampunk. 
Auch Ereignisse außerhalb der Literaturwelt können bestimmte, an sich unschuldige Entscheidungen in Romanen plötzlich geschmacklos wirken lassen oder sorgfältig geplante Werbekampagnen durcheinanderbringen. Und gerade erst wurden unzählige Werbeveranstaltungen für Veröffentlichungen wegen des Corona-Virus abgeblasen, sodass so einige Bücher nahezu unbemerkt herausgekommen sind. 
Tja, es gibt also immer Faktoren außerhalb der eigenen Kontrolle, die das Werk, das eigentlich der große Durchbruch werden sollte, mehr oder weniger in einen Schrei ins Leere verwandeln. Diese Enttäuschung ist ein weiteres Risiko, das zum Schreiben gehört. 

Fazit
Warum schreiben Menschen – einschließlich meiner selbst – Bücher? Sehr, sehr gute Frage. Ich habe ein paar Antworten darauf, aber auch gerade keine Energie mehr. (Deshalb bekommen diese Antworten ihren eigenen Blogpost.)
Vier der im Beitrag beschriebenen Bücher in einem weißen Regal
von Swantje Niemann 28 Dez., 2023
Ich habe dieses Jahr wieder einige Bücher entdeckt, die ich nur zu gerne weiterempfehle.
Bild einer etwas krakeligen Mindmap
von Swantje Niemann 20 Nov., 2023
Gleich noch ein spannendes Team-Projekt!
Cover des Romans
von Swantje Niemann 04 Nov., 2023
"Königsgift" und seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte
Die Bücher
von Swantje Niemann 22 Apr., 2023
Die Liste der Bücher, die sich mir 2022 eingeprägt haben, ist mal wieder sehr lang geworden. Hier sind ein paar davon: Fantasy 2022 habe ich die „Green Bone“-Saga beendet und zusätzlich die Novelle „The Jade Setter of Janloon“ gehört. Fonda Lee führt die Geschichte um den No-Peak-Clan zu einem sehr befriedigenden Ende und weitet immer weiter aus, wie viel von ihrer sehr modern und realistisch anmutenden Sekundärwelt ihre Geschichte abdeckt. Sie schreibt charismatische, moralisch ambige Figuren, die sich beim Lesen ins Gedächtnis schreiben und deren Überzeugungen und Charakterzüge überzeugende Wechselwirkungen mit ihrer Gesellschaft haben. Ich habe im letzten Jahr auch den bisher neuesten Band der „Masquerade“-Reihe von Seth Dickinson gelesen. „The Tyrant Baru Cormorant“ ve rvollständigt das relativ unbefriedigende „The Monster Baru Cormorant“ zu einem schließlich doch sehr überzeugenden Ganzen. Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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