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Januar bis Juni 2020: Ein buchiger Rückblick

Swantje Niemann • Juli 04, 2020
Raumschiff und Planet
Ich - bisher eher ein Science-Fiction-Muffel - bin gerade dabei, das Genre für mich zu entdecken. (Bild: Thomas Budach, Pixabay)

Die erste Hälfte von 2020 geht zu Ende. Es ist ein merkwürdiges Jahr: Ich habe meinen Master-Abschluss gemacht, ein Manuskript beendet, „Drúdir 3“ eingereicht und zusammen mit meiner Lektorin Isa Theobald optimiert und angefangen, als Lektorin zu arbeiten, während draußen in der Welt Australien und der Amazonas in Flammen aufgingen, sich das Corona-Virus verbreitete und nahezu jede Woche neue Nachrichten über rassistische Gewalt durchs Internet rasten. Mir war der Kontrast zwischen meinem unmittelbaren Erleben und der „Welt da draußen“ selten so bewusst wie in diesen Monaten. Darüber hinaus habe ich mich endlich dazu durchgerungen, mich um einen Therapieplatz zu bemühen. 
Aber irgendwie ist es mir gelungen, trotz allem, was mir im Kopf herumwirbelte, fast 53 Bücher zu lesen. 
In diesem Post erzähle ich von ein paar davon, die sich mir besonders eingeprägt haben.

Ich habe z.B. endlich eine große Phantastik-Wissenslücke gefüllt – und bereue sehr, dass ich „The Left Hand of Darkness“ und „The Disposessed“ von Ursula K. le Guin nicht schon viel früher gelesen habe. Was für fantastische, zum Nachdenken anregende Bücher!  

Bisher war ich ein ziemlicher Science-Fiction-Muffel, aber allmählich beginne ich, das Genre liebzugewinnen, und hatte z.B. auch viel Spaß an James Sullivans „Die Granden von Pandaros.“ Auf die Empfehlung meines Freundes hin habe ich auch Brandon Sandersons „Skyward“ gelesen. Durch das erste Drittel habe ich mich eher durchgequält, weil ich die Protagonistin anstrengend fand, aber später habe ich das Buch und seine Figuren liebgewonnen – dieser Science-Fiction-Roman holt das Beste aus so einigen YA-Tropes heraus und stellte ein paar andere auf den Kopf. Ein weiterer Science-Fiction-Klassiker, den ich dieses Jahr gelesen habe, war „The Parable of the Sower“ von Octavia Butler. Keine leichte Lektüre, angesichts dessen, wie sehr die Realität gerade an das dort geschilderte dystopische Szenario erinnert. Im Gegensatz dazu war Jeremy Szals „Stormblood“ sehr tropey, aber auch unglaublich unterhaltsam. Ein brutaler, rasanter Cyberpunk-Roman, der liebevoll Genre-Klischees zelebriert, aber auch einige emotionale Momente hat.

Das Steampunk-Genre ist traditionell eng mit Großbritannien verbunden, aber meiner Erfahrung nach tut es Steampunkromanen meistens gut, sich von den eurozentrischen Wurzeln des Genres zu entfernen oder multikulturelle Settings zu schildern. Das hat sich dieses Jahr wieder bestätigt, denn ich mochte Sarah Stoffers schillerndes, postapokalyptisches Steampunk-Berlin aus „Berlin – Rostiges Herz“ sehr gerne. Und P. Djéli Clark konnte mich mit „The Black God’s Drums“ überzeugen, einer Novelle, die in einem alternativen New Orleans spielt. 
 
Nachdem mir „Foundryside“ (Robert Jackson Bennett) so gut gefallen hat, habe ich mich sehr auf den Folgeband „Shorefall“ gefreut. Ich weiß nicht, was ich vom Ende des Buches halte, aber der Weg dahin war sehr klug und unterhaltsam. Der Autor ist sehr in sein Worldbuilding und Magiesystem verliebt, aber ich auch, und deshalb stören mich die langen Erklärungen nicht. Die Figuren sind toll, die Handlung spannend. Ein weiterer High-Fantasy-Roman, der mich sehr überzeugen konnte, war Gareth Hanrahans „The Gutter Prayer“, das eine einprägsame, immersive Welt voller übernatürlicher Bedrohungen und unheimlicher Alchemie heraufbeschwört.

Ich habe Lauren Beukes’ „Zoo City” vor allem gekauft, weil ein Faultier eine Schlüsselrolle spielt, aber der Roman hat mich auch mit seiner Sprache, seiner Protagonistin und seiner Schilderung einer Urban-Fantasy-Version Johannisburgs in seinen Bann gezogen. Sehr ungewöhnlich geht es auch in Neil Gaimans „Fragile Things“ zu – einige der Kurzgeschichten haben mich eher wenig angesprochen, andere wie z.B. „A Study in Emerald“ haben mich wirklich beeindruckt. 

Gleich zwei meiner Lieblingsbücher dieses Jahres spielen in New York: Helene Weckers „Golem und Dschinn“ und N.K. Jemisins „The City we became“. Ersteres schildert New-York im ausgehenden 19. Jahrhundert und malt ein atmosphärisches Bild einer Stadt mit vielen Gesichtern, letzteres könnte nicht gegenwartsbezogener sein. Jemisin schreibt mit Humor, Präzision und Wut über eine in sechs markanten Figuren personifizierte Stadt.

Nora Bendzkos „Kindsräuber“ hat sich mir ins Gedächtnis geschrieben, weil viele Bücher versprechen, eine düstere Märchenadaption zu liefern, aber dann doch davor zurückschrecken, sich wirklich auf eine Erkundung menschlicher Abgründe einzulassen. „Kindsräuber“ hingegen legt einen Kopfsprung in ebendiese hin.

Elif Shafaks „10 Minutes, 43 Seconds in this Strange World“ hat mich beeindruckt– hier ist die Geschichte in eine ungewöhnliche Rahmenhandlung eingebettet, und in ihr kommen zahlreiche einprägsame Figuren zu Wort, deren Perspektiven sonst gern ignoriert werden. Ich bin sehr froh, dieses Buch gelesen zu haben. Oyinkan Braithwaités „My Sister, the Serial Killer“ hat etwas von einem ausführlichen, schwarzhumorigen Witz, der in einem präzisen, literarischen Stil erzählt wird.

Ich habe dieses Jahr auch einige Sachbücher gelesen: Ich kann Tupoka Ogettes „Exit Racism“ (als Print gerade ausverkauft, aber noch als e-Book und auf Spotify verfügbar) nur empfehlen. Ebenfalls vielen Dank an das Autor*innen-Team hinter „Roll Inclusive“ – die Essays in diesem Buch liefern nicht nur Anregungen für Rollenspieler*innen. Das ebenso polemisch wie intelligent geschriebene „Desintegriert euch!“ von Max Czollek liefert eine zeitgenössische jüdische – und sehr kritische – Perspektive auf deutsche Vergangenheitsbewältigungsstrategien, mit denen Leute es sich allzu leicht machen, auf Kontinuitäten von Rassismus und Antisemitismus und die Probleme mit gegenwärtigen Ideen von Integration und „Leitkultur.“

Bestimmt habe ich ein paar Bücher vergessen, die auch eine Erwähnung in diesem Thread erwähnt hätten.

Wie geht es jetzt weiter?

Im Herbst (wahrscheinlich schon im September) erscheint „Drúdir – Schatten und Scherben“, der Abschlussband der Drúdir-Trilogie, und ich möchte mich um die Überarbeitung und Veröffentlichung des Urban-Fantasy-Romans zu kümmern, den ich diesen Winter geschrieben habe. Ich habe natürlich auch schon eine lange Leseliste für die nächsten Monate.

Und wie sieht es bei euch aus? Was waren eure Lesehighlights bisher, welche Bücher wollt ihr dieses Jahr noch lesen?

Vier der im Beitrag beschriebenen Bücher in einem weißen Regal
von Swantje Niemann 28 Dez., 2023
Ich habe dieses Jahr wieder einige Bücher entdeckt, die ich nur zu gerne weiterempfehle.
Bild einer etwas krakeligen Mindmap
von Swantje Niemann 20 Nov., 2023
Gleich noch ein spannendes Team-Projekt!
Cover des Romans
von Swantje Niemann 04 Nov., 2023
"Königsgift" und seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte
Die Bücher
von Swantje Niemann 22 Apr., 2023
Die Liste der Bücher, die sich mir 2022 eingeprägt haben, ist mal wieder sehr lang geworden. Hier sind ein paar davon: Fantasy 2022 habe ich die „Green Bone“-Saga beendet und zusätzlich die Novelle „The Jade Setter of Janloon“ gehört. Fonda Lee führt die Geschichte um den No-Peak-Clan zu einem sehr befriedigenden Ende und weitet immer weiter aus, wie viel von ihrer sehr modern und realistisch anmutenden Sekundärwelt ihre Geschichte abdeckt. Sie schreibt charismatische, moralisch ambige Figuren, die sich beim Lesen ins Gedächtnis schreiben und deren Überzeugungen und Charakterzüge überzeugende Wechselwirkungen mit ihrer Gesellschaft haben. Ich habe im letzten Jahr auch den bisher neuesten Band der „Masquerade“-Reihe von Seth Dickinson gelesen. „The Tyrant Baru Cormorant“ ve rvollständigt das relativ unbefriedigende „The Monster Baru Cormorant“ zu einem schließlich doch sehr überzeugenden Ganzen. Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
Print-Ausgaben von
von Swantje Niemann 13 Apr., 2023
Zwei sehr verschiedene Bücher erzählen beide in der ersten Person. Ich schaue mir mal genauer an, was ihren Ansatz dabei unterscheidet und wieso das in beiden Fällen sehr gut funktioniert.
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26 Nov., 2022
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von Swantje Niemann 12 Sept., 2022
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von Swantje Niemann 10 Juli, 2022
Fantasy, auch solche in von der Vergangenheit inspirierten Settings, kann Geschichte nicht einfach kopieren. Trotzdem ist die Beschäftigung damit mitunter eine echte Bereicherung fürs Schreiben.
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