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Figurenvorstellung und Character Art

Swantje Niemann • Juli 25, 2021
Skizze einer jungen, dunkelhaarigen Frau, um deren Finger sich so etwas wie Rauch kringelt. Sie kniet auf dem Boden und ist von Büchern und angefangenen Notizen umgeben.

Ich habe es vielen meiner Kolleg*innen, die Character-Art für ihre Buchfiguren in Auftrag gegeben haben, gleichgetan und bei Đặng Tuyên diese Skizze von Renia, der Protagonistin von "Das Buch der Augen" bestellt (mehr von Đặng Tuyêns Arbeit könnt ihr hier sehen. Ihr seid da definitiv an einer guten Adresse, wenn ihr euren Auftrag in beeindruckender Geschwindigkeit bearbeitet sehen wollt). Ich wollte bewusst etwas Skizzenhaftes, Stilisierteres, das den Betrachtenden trotzdem Raum für ihre eigene Vorstellung lässt, und ich fand es sehr spannend zu sehen, wie sich eine andere Person Renia auf der Basis meiner Beschreibung vorstellt.


Wer ist Renia?


Renia ist zu Beginn des Romans 21 - eine intelligente, perfektionistische Frau, die nach einem abgebrochenen Literaturwissenschaften-Studium nach Berlin zurückkehrt. Dort trauert sie noch immer ihrer letzten Beziehung nach und versucht, mit der für sie ungewohnten Erfahrung des Scheiterns umzugehen. Sie hat einige Probleme, die vielen Menschen vertraut sein dürften: Ihre Bekannten aus der Schule sind von ihr weggedriftet, sie ist theoretisch erwachsen, aber irgendwie auch nicht, und natürlich hat sie es mit ganz praktischen Schwierigkeiten wie der Suche nach einer Wohnung, einem Job und einem neuen Ziel in ihrem Leben zu tun.


Andere Herausforderungen, denen sie sich stellen muss, sind jedoch ungewöhnlicherer Natur: Immer wieder brechen Visionen einer fremdartigen Welt mit einem roten Himmel, einer geisterhaften Stadt und hungriger Monster in Renias Alltag ein, und langsam beginnt sie zu zweifeln, dass es sich um Halluzinationen handelt. Doch selbst, wenn die Dinge, die Renia sieht, real sind, bedeutet das nicht, dass sie keine psychischen Probleme hat - sie wird von leichten, aber anhaltenden Symptomen einer Depression verfolgt und nach und nach schleicht sich auch eine Essstörung in ihr Leben und weigert sich, ihren Klammergriff wieder zu lösen.


Einige der Gefahren, denen sich Renia stellen muss, lauern also in ihrem eigenen Inneren. Allerdings ist fraglich, ob Renia überhaupt die Zeit haben wird, sich damit auseinanderzusetzen, denn ein Wesen aus der roten Welt hat die Verfolgung aufgenommen. Renia muss sehr schnell in einer porösen, gefährlichen Realität überleben lernen.


Ein Zitat aus "Das Buch der Augen"


Das hier sind Renias Gedanken von relativ weit am Anfang des Buches (noch nicht lektoriert):


Elisa hatte mir von einer anderen ehemaligen Mitschülerin erzählt, die nun hier in der Gegend wohnte. Ich fragte mich, ob ich vielleicht den Kontakt erneuern sollte. Ich hasste es, die erste Person zu sein, die schrieb, oder – noch schlimmer –, die wiederholt Kontakt aufnahm und damit preisgab, dass sie diejenige war, die ihn mehr brauchte. Aber vielleicht musste ich mich einfach überwinden, wenn ich in den Köpfen anderer mehr sein wollte als die Erinnerung an einen eloquenten Partygast oder diese eine Studentin, die immer eine Antwort parat hatte. 


Aber wollte ich das? Was du anderen preisgibst, wird von ihnen nicht aufbewahrt wie ein historisches Artefakt unter Glas. Du nimmst in ihren Gedanken ein Eigenleben an, das du nicht länger kontrollieren kannst, und irgendwann besitzen sie eine Abbildung von dir, die dir gerade ähnlich genug ist, dass dich die Verzerrungen stören. Ich hatte mich schon oft innerlich gewunden, wenn mir andere Menschen ihre Version meiner Geschichte erzählten. Dann lieber eine glatte, flüchtige Präsenz voller Widersprüche sein, an der die Haken vorgefertigter Kategorien und Narrative keinen Halt fanden. 


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Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. 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Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. 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