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Wie kommt die Figur zum Plot?

Swantje Niemann • Mai 22, 2021
Straße führt zum Horizont. Es sind Berge und Wolken zu sehen.
Das Schicksal der Welt hängt in der Schwebe! Wie schön, dass sich die bestqualifizierte und am höchsten motivierte Person damit beschäftigen kann. Das klingt ein wenig langweilig, oder?

Zumindest scheinen das viele Schreibende so zu sehen, denn die Literatur ist voll von unwahrscheinlichen Held*innen. Das Paradebeispiel dürften Tolkiens Hobbits sein, aber wie viele Bücher gibt es, in denen plötzlich Teenager Entscheidungen von ungeheurer Tragweite treffen müssen? Und selbst Bücher, in denen Figuren ihre wichtige Rolle spielen wollen, machen diese häufig zu Underdogs, um so Sympathie und Spannung zu erzeugen und die Neugier der Lesenden zu wecken, wie die Protagonist*innen das Beste aus ihrer suboptimalen Startposition machen.

  • Es gibt eine Menge gute Gründe, bestimmte Rollen in Büchern nicht mit Figuren zu besetzen, die diese perfekt ausfüllen – das zu tun würde bedeuten, eine Menge Potenzial für Konflikte wegzuwerfen. Mögliche Konflikte sind z.B.
  • Selbstzweifel oder Ärger einer Figur, die eigentlich ganz andere Pläne mit ihrem Leben hatte und sich nun in einer unvertrauten Situation zurechtfinden muss
  • Die Figur muss ihr wahres Wesen verstecken, um den neuen Erwartungen zu genügen
  • Schuldgefühle anderer Figuren, wenn sie der Hauptfigur nicht helfen können (ich würde tatsächlich sehr gerne mal ein Buch aus der Sicht eines Elternteils oder einer Mentorfigur eines*einer Auserwählten lesen, das ihr Ringen damit erkundet, dass sie nur sehr eingeschränkt helfen können)
  • Zweifel anderer Figuren: Andere Figuren denken, dass die Figur ihrer Verantwortung nicht gewachsen ist
  • Scheitern, das die Konsequenzen von Fehlentscheidungen verdeutlicht und Stress und Unsicherheit bei der Hauptfigur erhöht
  • Etc.
Auf der anderen Seite gibt es hier auch einige typische Fallstricke. So haben Lesende, wenn die Hauptfigur nicht sehr überzeugend geschrieben ist, manchmal wenig Sympathie für eine Figur, die immer wieder ihrem alten, normalen Leben nachtrauert und sich selbst bemitleidet, während sich ihre neue, gefährlichere Situation so viel spannender liest – obwohl es sich um eine absolut verständliche Reaktion handelt. 

Eine weitere Schwierigkeit ist es, eine widerstrebende oder eigentlich nicht qualifizierte Figur auf glaubwürdige Weise in ihre neue Rolle zu stoßen. Ich lese immer wieder, dass Leute genervt von Prophezeiungen und Auserwählten sind und sie für eine sehr faule Lösung halten, dieses Problem zu lösen. Mir persönlich sind seit einer ganzen Weile nur sehr wenige solche Figuren begegnet – vielleicht, weil Autor*innen den Mangel an Begeisterung für dieses Motiv mitbekommen haben und es daher seltener in Büchern auftaucht oder zumindest nicht, ohne dass es kritisch reflektiert wird.

Eine weitere Schwierigkeit: Die Erklärung, wieso keine erfahreneren Menschen den Teenager-Protagonist*innen einiger Bücher die Arbeit abnehmen oder ihnen zumindest dabei helfen, die Welt zu retten, fordert Schreibenden oft einige Verrenkungen und Lesenden oft ein wenig Aussetzung des Unglaubens ab. 

Darum kann es sich auch anbieten, Figuren zu wählen, die tatsächlich eine sehr intuitive Besetzung sind. Beispiele wären hier z.B. Feldmarshall Tamas aus den „Powder Mage“-Büchern – der alte Militärstratege ist in der perfekten Position und sehr motiviert, seinen König zu stürzen und sein Land gegen eine Invasion des Nachbarstaates zu verteidigen. Eine ganze Reihe von mehr oder weniger verborgenen Gegnern sorgt dafür, dass er es trotzdem mit einer Menge unerwarteter Herausforderungen zu tun bekommt.

Und in der Urban Fantasy gibt es nicht ohne Grund die typische Figur des übernatürlichen Detektivs – jemanden, der sich gut mit dem Übernatürlichen auskennt, aber trotzdem in Situationen geraten kann, die weitaus gefährlicher und konsequenzenreicher sind als erwartet. Hier ist es schlichtweg der Job der Hauptfigur, sich mit Problemen zu beschäftigen, die in den Hauptkonflikt übergehen. Ihre Motivation ist dadurch gegeben, dass sie ihre Miete bezahlen muss. Allerdings ist auch das mittlerweile ein Klischee. Aber es gibt auch andere Varianten, wie man es zum „Job“ der Hauptfigur machen kann, sich mit einem Problem zu beschäftigen, das sie dann in weitaus größere Ereignisse hineinzieht.

Aber wie schaffen es Schreibende, widerwillige oder nicht offensichtlich für diese Rolle prädestinierte Figuren in weltbewegende Ereignisse zu verwickeln? Hier sind ein paar Beispiele, wie Autor*innen begründet haben, dass eigentlich nicht auf diese Rolle vorbereitete Figuren auf wichtige Positionen berufen werden:

  1. Eine sehr originelle Lösung, wieso die Protagonistin in die Handlung verwickelt wird, gibt es z.B. in „The Arcadia Project“ von Mishell Baker – hier wird Millie, eine Frau mit einer Vorgeschichte psychischer Erkrankungen, von einer Geheimgesellschaft rekrutiert, die im Kontakt mit Feen steht. Der Grund: Wie viele andere Mitarbeiter*innen wäre Millie wegen ihrer psychischen Probleme wenig glaubwürdig, wenn sie vorhätte, der Welt von diesen zu erzählen. 
  2. In Christopher Ruocchios „Das Imperium der Stille“ ist es die Fähigkeit des Protagonisten, eine seltene Alien-Sprache zu verstehen, die ihm Zugang zu Informationen und einer Rolle in einer Mission verschafft, die ihm ansonsten verwehrt geblieben wären. Seltene Fähigkeiten (häufig magischer Natur, aber wie man hier sieht, kann es sich auch um besonderes Wissen handeln) geben auch eine gute Erklärung dafür ab, wieso eine unwahrscheinliche Figur in einen wichtigen Konflikt verwickelt wird. 
  3. Ich will nicht behaupten, dass ich das Problem immer super elegant und originell gelöst habe, aber hier ist auch ein Beispiel aus einem meiner Bücher: In „Drúdir – Masken und Spiegel“ wird der Maskenmacher Jathrades zum Mitglied des inneren Zirkels von Revolutionär*innen, weil er ohne verdächtig auszusehen Kontakte zu Menschen aus den verschiedensten Schichten pflegen kann und dadurch eine wichtige Rolle dabei spielt, Informationen weiterzugeben und Kontakte herzustellen.
  4. Eine klassische Methode, Figuren in konfliktträchtige Schlüsselpositionen zu bringen, demonstriert Fonda Lee in ihrer „Green Bone Saga“ – hier „erben“ drei Geschwister Positionen in einem Clan, die nicht mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten zusammenpassen. Es folgt eine sehr spannende Geschichte darüber, wie sich ihre Beziehungen und Persönlichkeiten dadurch verändern, dass sie diese Rollen einnehmen müssen.

Ich hoffe, dieser Artikel bietet ein paar spannende Anregungen. Ich denke, dass es sich auf jeden Fall lohnt, sich ungewöhnlichere Erklärungen zu überlegen, wieso eine Figur auf unerwartete Weise in einen großen Konflikt hineingezogen wird, aber es lassen sich auch definitiv neue Facetten vertrauter Begründungen herausarbeiten. Und selbst die traditionellste Geschichte kann gut funktionieren und eine fadenscheinige Erklärung akzeptiert werden, wenn nur die Figuren und ihr Umgang mit der Situation spannend genug sind.

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Die Liste der Bücher, die sich mir 2022 eingeprägt haben, ist mal wieder sehr lang geworden. Hier sind ein paar davon: Fantasy 2022 habe ich die „Green Bone“-Saga beendet und zusätzlich die Novelle „The Jade Setter of Janloon“ gehört. Fonda Lee führt die Geschichte um den No-Peak-Clan zu einem sehr befriedigenden Ende und weitet immer weiter aus, wie viel von ihrer sehr modern und realistisch anmutenden Sekundärwelt ihre Geschichte abdeckt. Sie schreibt charismatische, moralisch ambige Figuren, die sich beim Lesen ins Gedächtnis schreiben und deren Überzeugungen und Charakterzüge überzeugende Wechselwirkungen mit ihrer Gesellschaft haben. Ich habe im letzten Jahr auch den bisher neuesten Band der „Masquerade“-Reihe von Seth Dickinson gelesen. „The Tyrant Baru Cormorant“ ve rvollständigt das relativ unbefriedigende „The Monster Baru Cormorant“ zu einem schließlich doch sehr überzeugenden Ganzen. Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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