Gedanken zu Genres: Was ist eigentlich Hochliteratur?
Swantje Niemann • 3. August 2020

Bild (Teetasse auf einem Bücherstapel) von Ylanite Koppens auf Pixabay
Ich schlage ein kleines Experiment vor: Sprecht einen Fantasy-Fan an, und erwähnt das Wort „Hochliteratur“. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass euch als Antwort eine Tirade darüber erwartet, wie die akademische Welt hochinteressante Genre-Literatur ignoriert, dass Hochliteratur nur aus langweiligen Texten besteht, mit denen Schulen und Universitäten Lernende quälen, und dass Shakespeare auch Fantasy geschrieben hat. Vielleicht haben sie auch noch einen spöttischen Kommentar über Ian McEwan übrig, der darauf bestand, dass sein Roman über künstliche Intelligenz auf gar keinen Fall Science Fiction sein könne, weil er ja den Fokus darauf lege, welche ethischen Dilemmata und psychologischen und philosophischen Implikationen diese habe. Darüber, was Hochliteratur eigentlich ist und was einen Text „literarisch“ macht, gibt es viele Meinungen und noch mehr vage „Ich erkenne es, wenn ich es sehe“-Einstellungen. Und das hat mich inspiriert, diesen Artikel zu schreiben, in welchem ich zwei Fragen zu beantworten versuche: Was ist Hochliteratur? Und ist sie besser als ihr Ruf?
Letzteres ist nicht wirklich schwer, immerhin fühlt sich „Hochliteratur“ oder gar „Höhenkammliteratur“ zu sagen ein wenig an, als würde man mit Staub gurgeln. Ich nehme kurz eine Hand von der Tastatur, um zu checken, ob meine Haare in den letzten Sekunden ein wenig grau geworden sind. Okay, sind sie nicht. Also weiter im Text. Dieser Artikel
definiert Hochliteratur als Literatur, die inhaltlich, formal und stilistisch innovativ sei und zum Nachdenken anrege. Dadurch unterscheide sie sich von der Populärliteratur, welche mit etablierten Formen arbeite, primär unterhalten wolle und gerade beliebte Themen aufgreife, und von der Trivialliteratur, welche quasi Populärliteratur mit Stereotypen und allzu einfachen Lösungen sei.
Der Artikel weist jedoch auch auf die Probleme des Begriffs hin, denn Literatur, die in ihrer Zeit als populär und unterhaltsam galt, sei später als Hochliteratur anerkannt worden, und auch viel Populärliteratur der Gegenwart könne spannend und lehrreich sein. Ebenso, möchte ich ergänzen, kann die Lektüre von Hochliteratur Spaß machen. Um Lesende bei der Stange zu halten, müssen Autor*innen von Hochliteratur das Handwerkszeug meistern, dass auch ihre kommerzieller denkenden Kolleg*innen nutzen, um ihre Texte attraktiv zu machen.
Die Wikipediaseite
zu „literary fiction“ stellt einen Gegensatz zwischen Literary Fiction und Genre Fiction und „Commercial Fiction“ auf, aber erwähnt gleichzeitig, dass z.B. anerkannte LitFic-Autorin Margaret Atwood auch letztere geschrieben habe. Ian McEwan habe ich ja bereits erwähnt. Auf der Seite sind mehrere Kriterien für Literary Fiction gelistet:
- Sie sei gesellschaftskritisch oder setzte sich mit der „Human Condition“ auseinander.
- Sie sei introspektiv und lege den Fokus auf die Entwicklung interessanter Figuren.
- Die Handlung schreite langsamer fort.
- Sie sei komplex und stilistisch besonders interessant.
- Der Plot sei weniger wichtig als bei „commercial fiction“
- Sie sei auch oft düsterer als diese.
Die Gegenüberstellung „düstere, aufwühlende Literary Fiction vs. Heile-Welt-Genre-Fiction“, die auch in dem zuvor wiedergegebenen Artikel auftaucht, irritiert angesichts der Hochkonjunktur von Dystopien und gnadenlosen Fantasywelten in der Genre-Fiction der letzten dreißig Jahre ein wenig, aber mit anderen Kriterien lässt sich schon mehr anfangen.
Mark Lawrence hat kürzlich auf seiner Facebookseite auch nach Definitionen für „Literary Fiction“ gefragt, und seine eigene Interpretation angeboten, bei der es bei Hochliteratur vor allem darum ginge, „themes“ zu erkunden – unabhängig vom Genre. Ich halte das für einen ziemlich nützlichen Debattenbeitrag, denn er hat mich zu dem Gedanken geführt, dass der Hauptunterschied zwischen „Hoch“-, und „Unterhaltungsliteratur“ für mich darin liegt, wie wir darüber reden. Wenn Rezensionen und Analysen uns fragen, was uns das Buch uns beibringt und außerdem innovative sprachliche und stilistische Entscheidungen gelobt werden, ist es Hochliteratur. Wenn Rezensionen und Analysen vor allem um Plot, Spannung und darum kreisen, ob und warum Figuren sympathisch sind: keine Hochliteratur. In der Wissenschaft werden bei ersterer einzelne Werke tiefgehend untersucht, bei letzterer viele Bücher ausgewertet, um Trends zu identifizieren.
Allerdings macht diese Unterscheidung das Gegensatzpaar „literary“ und „genre fiction“ ziemlich nutzlos, da sie definitiv „literary fantasy“ zulässt. Das Adjektiv „literary“ ist jedoch nicht nutzlos, da es durchaus etwas über Stil und Inhalt des Buches und die Reaktion, die es bei vielen Lesenden auslöste (e.g. Nachdenken, eine veränderte Perspektive), aussagt.
Gleichzeitig ist es eine Unterscheidung, die auf der Rezipient*innenseite erfolgt – es ist durchaus möglich, die Kriterien von Unterhaltungsliteratur (Ergibt der Plot Sinn? Ist das Buch spannend?) an Hochliteratur anzulegen (auch wenn dabei eine Menge Aspekte unbeachtet bleiben), und zu fragen, was uns ein vermeintlich triviales Buch sagen will.
Und bei der Rezeption spielen auch Halo-Effekte eine Rolle: Hat di*er Autor*in bereits anerkanntermaßen Hochliteratur geschrieben? Dann kann ihr aktuelles Buch über Unsterbliche/Roboter/eine dystopische Zukunft keine Genre Fiction sein. Leider spielt hierbei auch das Geschlecht der Schreibenden eine Rolle, müssen sich Frauen doch deutlich mehr hervortun, um als innovativ anerkannt zu werden. Ebenso hat es auch etwas mit regionaler Kultur zu tun, wo und wie scharf die Trennlinie zwischen Hoch- und Populärliteratur gezogen wird.
Tja, und mein Fazit:
- „Hochliteratur“ ist ein klobiger Begriff, der staubig und arrogant klingt, aber er ist nicht inhaltsleer.
- Trotzdem ist „Hochliteratur“/“literary fiction“ bei weitem kein objektiver Begriff. Faktoren, die nichts mit dem Werk selbst zu tun haben, spielen eine Rolle, darunter Vorurteile gegenüber bestimmen Gruppen von Schreibenden oder bestimmten Genres.
- Das Genre, in welchem ein Buch erschienen ist, hat eigentlich keinen Einfluss darauf, wie „literarisch“ das Buch ist, dafür jedoch die Frage, ob das Buch Genrekonventionen folgt, oder innovative Dinge mit Stil, Charakteren und Plot anstellt.
- Eine Frage, mit der ich zurückbleibe: Ab welchem Verhältnis von Innovation und Konvention ist ein Buch literarisch? Kann ein Buch literarische Passagen in einem ansonsten eher trivialen Text haben und triviale Aspekte in einem ansonsten überwiegend literarischen Werk? Hm.
- Wir brauche mehr Raum für literary SFF, gerade in Deutschland, wo das Potenzial dieser Genres, Fragen über Mensch, Natur und Gesellschaft aufzuwerfen und überraschend zu beantworten, sowie spannende stilistische Experimente durchzuführen, gerne unterschätzt wird
- Um noch mal auf Punkt zwei zurückzukommen: Leute, die sagen, dass ein Buch keine Fantasy/SFF mehr ist, weil es „zu gut“ ist, nerven
- Ich würde nicht von einer Hierarchie zwischen literary fiction und nicht-literary-fiction ausgehen, sondern eher von einer Aufgabenteilung

Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.

Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt. Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).