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Hinter den Kulissen: Sensitivity Reading

Swantje Niemann • Juli 04, 2019

Wie versprochen erzähle ich ein bisschen über das Wie und Warum meines Sensitivity-Readings.

Kontext: „Drúdir 3“und das Erbe der Tolkien-Tropes
Im dritten Roman meiner Drúdir-Trilogie passiert eine Menge. Es geht um alte Magie, persönliche Rache und eine Fantasy-Spezies, die in Teil 1 einmal am Rande erwähnt wird: Trolle. Letztere sind groß, haben steinartige Haut, Hörner, eine Menge Geheimnisse und sind am unteren Ende eines hässlichen Machtgefälles zu finden.
Und hier beginnen die Dinge, kompliziert zu werden. Das gesamte„Drúdiversum“ ist ein Versuch, alte Fantasytropes, wie sie von Tolkien und Dungeons & Dragons popularisiert wurden, zu modernisieren und Themen wie Industrialisierung, Rechtsextremismus, Kolonialismus etc. hineinzutragen. Rückblickend betrachtet bin ich nicht sicher, ob das eine gute Idee war, da diese Tropes einer zutiefst rassistischen Zeit entstammen (womit ich nicht sagen will, dass unsere okay ist) und meine Version wahrscheinlich eher noch dazu beiträgt, Aufmerksamkeit auf ihren historischen Ballast zu lenken.
Habe ich „Tolkien dekolonisiert“? Eher nicht. Vielleicht wegen meiner persönlichen blinden Flecken, die noch deutlich größer waren, als ich angefangen habe zu schreiben (wie anderswo gesagt, würde ich heute einiges anders machen), vielleicht, weil das generell schwierig ist. Das droht sehr deutlich zu werden, wenn ich eine Situation schildere, in welcher eine lange Geschichte von Diskriminierung die Interaktionen zwischen meinen Protagonist*innen und Troll*innen überschattet.

Das Problem (unbeabsichtigter) Rassismusmetaphern
Ein beiläufiger Kommentar eines Beta-Lesers, dass er Parallelen zu Rassismus gegen Schwarze Personen bemerkte(1), und meine eigenen Gedanken zu dem Thema haben mich darin bestärkt, dass ich bei diesem Projekt jemanden brauchte, der mir über die Schulter schaut. Denn ich möchte vermeiden, dass der Troll-Subplot in „Drúdir 3“ wie eine bewusste Analogie für realen Rassismus gegen eine spezifische Gruppe aussieht. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe:
1. Ich will mir nicht anmaßen, ohne echte Recherche, ausgiebige Gespräche mit Betroffenen und durch ein Fantasysetting dekontextualisiert die Geschichte einer echten Bevölkerungsgruppe zu erzählen. Insbesondere, wenn Diskriminierungserfahrungen im Vordergrund stehen.
2. Ein häufiges Problem mit Unterdrückungsmetaphern in Fantasy ist, dass sie Xenophobie nachvollziehbar erscheinen lassen. Wenn eine Gesellschaft „normaler“ Menschen keine Magier*innen in der Nähe haben will, die mit einem Gedanken ein Gebäude platt machen können, oder wenn ein*e Zwergin sich in der Gegenwart eine*r doppelt so großen Troll*in zunächst unwillkürlich etwas unbehaglich fühlt, ist das zwar nicht fair, aber auch ein bisschen verständlich. Darüber hinaus ist es gleichzeitig eine völlig andere Situation als in unserer Welt, in welcher diskriminierte Bevölkerungsgruppen eben nicht auf Fähigkeiten/Ressourcen zurückgreifen können, die der Mehrheit entzogen sind.
3. Fantasy"völker“, die tatsächlich große Unterschiede aufweisen (z.B. unterschiedliche Lebensspannen, unterschiedlich ausgeprägte Intelligenz und Körperkraft) als Analogie für verschiedene ethnische Gruppen unter Menschen zu benutzen, ist deshalb eine gefährliche Metapher, weil hier Essentialismus, Hierarchien und die Behauptung von nicht überbrückbaren Unterschieden vom Weltenbau gerechtfertigt werden. (Das ist der Grund, wieso Elfen so oft mit Aussagen/Verhaltensweise davonkommen, die bei Menschen unter aller Kritik wären – irgendwie ist klar, wo sie ihre Überlegenheitsideen herhaben.)
4. Wenn es in einem Fantasysetting um rassismusartige Diskriminierung geht, dann wird häufig vereinfacht. Es wird selten darauf eingegangen, dass diskriminierende Strukturen eine Geschichte und lange fortdauernde Konsequenzen haben, und dass sie existieren, weil Menschen von ihnen profitieren. Diese Komplexität, und die Arbeit, die es erfordert, Gerechtigkeit herzustellen, werden allzu leicht heruntergespielt. Das liegt teils an mangelndem Verständnis, teils aber auch daran, dass sich Fantasyautor*innen immer sorgfältig überlegen müssen, worauf sie die Menge an Exposition verwenden, die ihnen Leser*innen zugestehen.
5. In meinem speziellen Fall ist nicht nur das Fantasy-Äquivalent von Rassismus das Problem, da meine Trolle auch einige Probleme von Menschen mit Behinderungen teilen: Obwohl sie für Menschenverhältnisse normal bis überdurchschnittlich intelligent sind, können sie aus einem magischen Grund nicht lesen und schreiben. Außerdem sind sie sehr viel größer und schwerer als Zwerge. Sie sind gezwungen, sich durch eine Welt zu bewegen, in der man sie immer wieder unterschätzt, aber sich zugleich weigert, auf ihre besonderen Bedürfnisse einzugehen: Straßenschilder und offizielle Dokumente werden nicht trollfreundlich gestaltet, es gibt in Eisenbahnen und Theatern keine Sitze in Trollgröße, und sie können manche Gebäude nicht betreten, aus Angst, eventuell eine zerstörte Treppe bezahlen zu müssen. (Ich erwähne nicht alles davon, aber hatte es beim Schreiben und Überarbeiten im Hinterkopf).

Sensitivity-Reading: Was habe ich verändert?
Um sicher zu stellen, dass mein Roman nicht dazu einlädt, die falschen Parallelen zu ziehen oder Stereotype verstärkt, habe ich Nora Bendzko beauftragt, sich als Sensitivity-Leserin meines Projekts anzunehmen – untypischerweise nicht, um sicherzustellen, dass ich eine reale Bevölkerungsgruppe richtig repräsentiere, sondern um dafür zu sorgen, dass die Trolle in„Drúdir 3" eben nicht als Analogie für eine solche gelesen werden, und dass Diskriminierung als ungerechtfertigt erscheint.
Ich habe Nora das Manuskript geschickt und ihr gesagt, zu welchen Aspekten ich mir Feedback wünsche. Es hat nicht lange gedauert, bis ich den Text mit Anmerkungen sowie eine Mail mit ausführlicheren Informationen zu historischen und kulturellen Kontexten bestimmter unfreiwillig fragwürdiger Details zurückbekam. Es war auch die eine oder andere konkrete Idee dabei, was ich hinzufügen könnte.
Bei ein paar Sachen, die ich aus Schilderungen von Trollen in anderen Fantasyromanen übernommen habe, um einen gewissen Wiedererkennungswert zu gewährleisten (z.B. dass Nacktheit nicht tabuisiert ist und sie Schmucknarben tragen) habe ich mir Sorgen wegen möglicher Assoziationen mit kolonialen Ideen von „Wilden“ gemacht, aber zu meiner Überraschung wurden sie durchgewinkt.
Anderes habe ich auf Noras Rat hin geändert, darunter die Assoziation von Trollen mit Gewalt (die Zwerge haben sie nach wie vor, aber ich habe mehrfach betont, dass ihre Ängste keine Grundlage in der Realität haben) und Drogenkonsum. Letzteren hatte ich erwähnt, weil es mir als eine relative intuitive Konsequenz der Armut und Perspektivlosigkeit der Trolle erschien, dass diese durch den Konsum von „Nebelkraut“ versuchen, ihren Alltag erträglicher zu machen, aber angesichts der Parallelen zu Cannabis, auf die mich Nora hingewiesen hat, habe ich das lieber gestrichen.
Darüber hinaus hat sie mich darin bestärkt, kleine Passagen aus der Perspektive einer Trollin dorthin zu setzen, wo in „Drúdir 1“ Gedichte stehen, damit nicht nur Zwerge, Menschen und Elfen zu Wort kommen.
Ich sollte das nicht sagen müssen, aber Nora hat nichts anderes getan, als mir Anregungen zu liefern, wie ich mein Buch verbessern könnte, und mich für kulturelle Kontexte, die seine Rezeption beeinflussen könnten, zu sensibilisieren. Schriftsteller*innen werden daran gemessen, wie gut ihre Bücher ausdrücken, was sie sagen wollen, und Sensitivity-Reading verhindert unfreiwillig widersprüchliche Botschaften. (2)

Und jetzt?
Ist „Drúdir 3“ komplett unproblematisch? Wahrscheinlich nicht. Ich muss schließlich einigen grundlegenden Worldbuilding- und Figurenentscheidungen treu bleiben, die ich getroffen habe, als ich noch weniger reflektiert und informiert war, und dann ist da noch der historische Ballast der tolkien’schen Fantasyvölker. Darüber hinaus beschreibe ich eine Welt, in welcher Gerechtigkeit immer wieder realpolitischen Überlegungen untergeordnet werden muss – in einer Zeit, in der wir eigentlich Geschichten brauchen, die uns daran erinnern, dass positive Veränderungen möglich sind.
Aber es steckt meiner Meinung nach genug Gutes in „Drúdir 3“, dass ich das Buch dennoch mit einem guten Gefühl veröffentlichen kann. Stellt es euch als eine Synthese aus Bd. 1 & 2 vor: Düsterer High-Fantasy-Steampunk trifft einen High-Stakes-Racheplot – und Drúdir trifft eine neue Figur, die ich sehr mag. (Ja, ich beende einen Artikel, in dem ich potenzielle Probleme in meinen Büchern und vergangene Fehler reflektiere, mit vorsichtiger Eigenwerbung – zum Ausgleich findet ihr in Fußnote (3) ein paar Empfehlungen für Bücher anderer Leute, die in puncto Diversity deutlich mehr leisten).

Praktische Tipps

Falls ihr mehr über Sensitivity-Reading wissen wollt oder vielleicht sogar selbst jemanden dafür sucht, schaut doch hier vorbei. (4)
Meiner Meinung nach hat Sensitivity-Reading aus Autorenperspektive gegenüber dem Einholen der Meinung von Bekannten zwei Vorteile. 1. Es handelt sich um eine professionelle Beziehung. Wo Freund*innen vielleicht zögern würden, ein Projekt zu kritisieren, ist es wortwörtlich der Job eine*r Sensitivity-Leser*in, genau das zu tun. 2. Der/die/* Leser*in wird bezahlt, sodass sich der/die/* Autorin nicht (allzu) schlecht dafür fühlen muss, jemandem Aufwand zu verursachen und die betreffende Person eventuell zur Konfrontation mit unangenehmen Themen zu zwingen. (5)
Sensitivity-Reading ist nicht, wie gerne geschrien wird, Zensur, (6) sondern vielmehr ein Rechercheschritt, der dabei helfen soll, einer diversen Gruppe von Leser*innen ein Leseerlebnis zu bieten, das sie nicht zum Augenrollen angesichts mieser Repräsentation zwingt bzw. schlimmstenfalls bestehende Stereotypen verstärkt und Leser*innen verletzt. Ich beschwere mich auch nicht bei meiner Lektorin, dass ich mich durch ihre Anmerkungen in meiner Freiheit eingeschränkt fühle.
Dinge zum im Hinterkopf behalten: Sensitivity-Reading bringt nur etwas, wenn man bereit ist, die Kritik tatsächlich anzunehmen und einzuarbeiten, und kann nicht garantieren, dass wirklich niemand von einer Geschichte verletzt wird. Idealerweise kennen sich Sensitivity-Leser*innen gut mit dem aktuellen Stand des Diskurses um problematische Aspekte von Literatur aus, aber auch sie wissen nicht alles. Außerdem lohnt es sich manchmal, mit Leuten zu sprechen, bevor man sich ernsthaft in ein neues Projekt stürzt – Kleinkram lässt sich reparieren, aber das gilt nicht, wenn die Probleme schon mit der Grundidee des Romans anfangen. (Das war mit meine größte Sorge, als ich das Sensitivity-Reading in Anspruch genommen habe und ich war erleichtert, dass Kommentare in dieser Richtung ausgeblieben sind).

Ein bisschen wohlverdiente Werbung für meine Sensitivity-Leserin
Hier könnt ihr mehr über Nora herausfinden, die nicht nur als Lektorin und Sensitivity-Leserin die Bücher anderer Leute besser macht, sondern vor allem als Autorin und Musikerin selbst kreativ ist: www.norabendzko.com

Fußnoten

(1) Relativ viele Leute, denen ich z.B. auf Twitter folge oder deren Artikel ich lese, sind PoC und/oder antirassistische Aktivist*innen. Ich habe versucht, aus ihren Erfahrungen und Analysen typische Mechanismen der Diskriminierung abzuleiten und dann zu überlegen, was in meinem Setting realistisch wäre, aber wollte eigentlich keine konkreten Details übernehmen. Wahrscheinlich ist das aber zum Teil unbewusst passiert.
(2) Bewusste Ambivalenz, die Leser*innen zum Nachdenken zwingt und in Frage stellen lässt, ob z.B. die Protagonist*innen wirklich die Guten sind oder unhinterfragte Biases haben oder einfach mal so richtig falsch liegen, sind etwas anderes. Ich vertraue dem moralischen Kompass meiner Leser*innen und käme mir herablassend vor, wenn ich alles, was passiert, überdeutlich einordnen würde. Die Darstellung eines fragwürdigen Verhaltens ist nicht mit dessen Unterstützung/Verharmlosung zu verwechseln. Ein kleines Beispiel: In „Drúdir – Dampf und Magie“ ist mein Protagonist zuerst der Überzeugung, dass eine rechtsextreme Partei schon ihre Unfähigkeit unter Beweis stellen und alle Unterstützung verlieren würde, wenn sie tatsächlich an die Macht käme. Ich hätte ihm am liebsten durch den Bildschirm hinweg zugeschrien, er solle nicht so naiv sein, und verlasse mich darauf, dass es meinen Leser*innen, die das gleiche historische Wissen mitbringen wie ich, genauso geht.
(3) Wie versprochen, ein paar Buchempfehlungen:
1. N.K.Jemisins „Broken Earth“-Reihe dürftet ihr mittlerweile alle gelesen haben, aber kennt ihr auch schon ihre Anthologie How long 'till Black Future Month? “?
2. Ken Liu erzählt in seiner ostasiatisch inspirierten „ Dandelion Dynasty “ (dt.„Seidenkrieger)-Serie nicht nur davon, wie ein tyrannisches Regime gestürzt wird, sondern auch, wie die erfolgreichen Rebell*innen sich anschließend aufrichtig bemühen, es besser zu machen.
3. Seid ihr manchmal so wütend auf die Ungerechtigkeiten der Gegenwart, dass ihr einfach alles niederbrennen wollt? Nnedi Okorafors „ Das Buch des Phönix “ könnte genau die richtige Lektüre für euch sein.
4. In Mishell Bakers „ Arcadia Project “ treffen sensible, ehrliche Schilderungen eines Lebens mit einer psychischen Krankheit auf Humor und unterhaltsame Urban Fantasy mit vielen überraschenden Wendungen.
5. Ihr mögt YA und Grimdark, habt kein Problem damit, sie in einem Roman kombiniert zu sehen, und interessiert euch für chinesische Geschichte? Vielleicht wäre R.F. Kuangs „ The Poppy War “ was für euch.
6. Auf der Suche nach queerer, witziger, mitfühlender Science-Fiction? Schaut euch mal „ Space Opera “ von Catherynne M. Valente an
7. Elea Brandts „Sand und Wind“ (Rezension & Autorinneninterview folgen in der nächsten Phantast-Ausgabe) zeichnet eine Fantasykultur, in der Gleichberechtigung herrscht und niemand queere Beziehungen als unnormal empfindet
(4) ( https://sensitivity-reading.de/ ) Falls ihr euch bei den Ehrenamtlerinnen hinter der Seite erkenntlich zeigen wollt, geht das z.B. über Paypal.
(5) Diesen Aspekt würde ich nicht unterschätzen. Ein kleines Beispiel aus eigener Erfahrung: Ich habe vor einer Weile anonym einen Artikel über ein für mich sehr schwieriges, mit negativen Emotionen und Erinnerungen beladenes Thema geschrieben, der es anderen erleichtern soll, realistischer darüber zu erzählen. Ich bin dabei mehr als einmal in Tränen ausgebrochen, weil mich das darüber sprechen an ziemlich hässliche Orte in meinem Kopf geführt hat.
(6) Das Gleiche gilt meiner Meinung nach übrigens auch für Triggerwarnungen/Content Notes. Die Idee dahinter ist ja, dass Autor*innen weiterhin frei sind zu schreiben, was sie wollen, und Leser*innen sich informiert entscheiden können, ob sie sich auf diese Bücher einlassen oder eben nicht.

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Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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