Rezension: Mishell Baker - Borderline (The Arcadia Project, Buch 1)

Swantje Niemann • 20. März 2018

"Borderline" wartet mit einem spannenden Krimiplot und einer innovativen Darstellung von Feen auf. Die große Stärke des Buches ist jedoch die Protagonistin, die Lesern mit viel trockenem Humor, aber dennoch eindringlich das Leben mit einer psychischen Krankheit nahebringt.


Klappentext

A cynical, disabled film director with borderline personality disorder gets recruited to join a secret organization that oversees relations between Hollywood and Fairyland in this Nebula Award–nominated and Tiptree Award Honor Book that’s the first novel in a new urban fantasy series from debut author Mishell Baker.

A year ago, Millie lost her legs and her filmmaking career in a failed suicide attempt. Just when she’s sure the credits have rolled on her life story, she gets a second chance with the Arcadia Project: a secret organization that polices the traffic to and from a parallel reality filled with creatures straight out of myth and fairy tales.

For her first assignment, Millie is tasked with tracking down a missing movie star who also happens to be a nobleman of the Seelie Court. To find him, she’ll have to smooth-talk Hollywood power players and uncover the surreal and sometimes terrifying truth behind the glamour of Tinseltown. But stronger forces than just her inner demons are sabotaging her progress, and if she fails to unravel the conspiracy behind the noble’s disappearance, not only will she be out on the streets, but the shattering of a centuries-old peace could spark an all-out war between worlds.

Handlung

Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch erhält Millie überraschenden Besuch. Die geheimnisvolle Caryl rekrutiert sie für das Arcadia-Projekt. Diese geheime Organisation ist damit betraut, die Kontakte zwischen Menschen und Feen zu überwachen und stellt aus (wie sich herausstellt überraschend logischen) Gründen bevorzugt Menschen mit psychischen Problemen ein – Menschen wie Millie, deren Borderline-Störung sie immer wieder zu irrationalem, selbstzerstörerischen Verhalten treibt.

Millie hat keinen leichten Start. Sie erhält ihre Informationen nur bröckchenweise und gerät ständig mit ihren neuen Kollegen aneinander. Ihre erste Aufgabe ist die Suche nach dem untergetauchten Feen-Adligen Rivenholt. Rivenholt ist das „Echo“ des Regisseurs David Berenbaum. Menschen, die ihren Feen-Echo begegnen, sind zu außergewöhnlichen künstlerischen Leistungen in der Lage, während ihr Echo im Gegenzug menschliche Stärken wie ein besseres Gedächtnis gewinnt.

Millie ist hingerissen davon, ihr Idol Berenbaum zu treffen und will alles tun, um ihm zu helfen – umso mehr, da er ihr einen Job anbietet. Ihre Suche führt sie zu Schauspielern und Privatdetektiven, aber auch zu so unheimlichen Gestalten wie der dunklen Fee Vivian. Rasch stellt Millie fest, dass niemand ihr die ganze Wahrheit verraten hat. Sie muss schnell herausfinden, was Berenbaum, Rivenholt und Vivian, die Schauspielerin Inaya West und den vorgeblichen Polizisten Brian Clay miteinander verbindet. Andernfalls könnte es sie und ihre Kollegen das Leben kosten und schwerwiegende Konsequenzen für beide Welten haben.

Figuren

„Borderline“ hat eine gut konstruierte, spannende Krimihandlung und entwickelt ein ganz eigenes, originelles Feen-Bild, aber die große Stärke des Buches sind die Figuren. Millie ist intelligent, willensstark und gut darin, andere einzuschätzen und zu manipulieren. Sie neigt jedoch auch dazu, verzweifelt nach Zuneigung und Anerkennung zu suchen und ebenso irrational aggressiv wie hilflos zu reagieren, wenn ihr diese verweigert werden. Sie trifft einige nicht sehr kluge Entscheidungen und verletzt Menschen um sie herum, aber gesteht sich ihre Fehler offen ein. Ich kenne mich nicht mit Borderline aus, aber für mich hat sich der Roman wie das gelungene Portrait einer Protagonistin angefühlt, die in ihrem Alltag mit einer schweren Behinderung und einer psychischen Krankheit kämpft, welche alle ihre Wahrnehmungen und Handlungen beeinflussen, die ihre Situation aber grimmigem Humor bewältigt.

Wir sehen Millies Kollegen durch nur die Linse ihrer Wahrnehmung, und erhalten so ein Bild von ihnen, das alles andere als objektiv, aber einprägsam ist. Sie alle vermitteln den Eindruck, wegen ihrer diversen Probleme sehr verletzlich zu sein. Wenn die Methoden, die sie gefunden haben, um irgendwie zurechtzukommen, versagen, folgen Zusammenbrüche und heftige Auseinandersetzungen. Mehrfach muss Millie ihre Meinung über sie revidieren.

Eine der spannendsten Figuren ist Caryl, eine Hexenmeisterin und Millies Vorgesetzte. Sie versteckt sich hinter ihrer eisigen Professionalität. Es stellt sich aber schnell heraus, dass sie ebenso wenig gefestigt ist, wie die anderen Figuren, und nur funktionieren kann, weil sie ihre Gefühle magisch von sich abgespalten hat. Sie wuseln nun in Gestalt eines Drachen um eine Neunzehnjährige herum, die auftritt wie eine doppelt so alte Frau und Erfahrungen gemacht hat, die man niemandem wünscht.

Auch die Menschen und Feen, die in Millies Ermittlungen verwickelt sind, sind interessante Gestalten.

Stil

Ich-Erzählerin Millie hat eine ganz eigene Stimme. Egal ob sie nur erzählt oder aber mit anderen Figuren spricht, tragen ihre pointierten, sarkastischen Kommentare sehr zu dem Buch bei. Doch auch die anderen Figuren sind nicht bloß Stichwortgeber für Millies schlagfertigen Antworten. Auch ihre Arcadia-Projekt-Kollegen haben allerlei bissige Bemerkungen auf Lager und gerade Caryls Mischung aus Förmlichkeit und trockenem Humor macht Spaß zu lesen. Aber zugleich werden immer auch die verletzten Gefühle beleuchtet, die die Figuren zu verstecken versuchen, und man fühlt auch in den Momenten mit Millie, in denen ihre Wahrnehmungen und Handlungen Menschen ohne Borderline wahrscheinlich eher fremd sind.

Fazit

„Borderline“ ist ein spannender Urban-Fantasy-Krimi mit einer außergewöhnlichen Protagonistin. Millies sarkastische Erzählstimme und die sensiblen, nachvollziehbaren Schilderungen eines Lebens mit einer psychischen Erkrankung sind große, aber nicht die einzigen Stärken des Buches, da es außerdem noch mit einem gut konstruierten Plot und interessanten, lebendigen Nebenfiguren aufwartet.


Saga Press, März 2016

Imprint: Saga Press

ISBN: 9781481429795

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Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. 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