Rezension: N.K. Jemisin - How Long 'til Black Future Month

Swantje Niemann • 6. Februar 2019

In einer eindrucksvollen Anthologie zeigt N.K. Jemisin den ganzen Facettenreichtum ihres literarischen Schaffens.

Rezension
Eigentlich mag ich Romane deutlich mehr als Kurzgeschichten, Fantasy deutlich mehr als Science-Fiction. Aber N.K. Jemisins eher Science-Fiction-lastige Anthologie „How Long 'till Black Future Month“ war trotzdem ein Must-Read für mich und hat mich trotz meiner bereits hohen Erwartungen positiv überrascht.
Es handelt sich um eine Sammlung von Phantastik-Geschichten, die teilweise schon in Zeitschriften und Anthologien erschienen sind. Bestimmte Themen – Vorurteile, Unterdrückung und der Kampf dagegen, menschliche Anmaßung, etc. – tauchen immer wieder in verschiedenen Formen auf, aber die Geschichten sind so angeordnet, dass sie maximale Abwechslung bieten. Darin lernen Leser*innen verschiedene Fantasywelten, aber auch unzählige mögliche Zukünfte unserer Welt kennen.
Mal sehr dunkel, aber immer übersprudelnd vor originellen Ideen entführt „How Long 'til Black Future Month“ sein Publikum in eine verfallende Stadt der Zukunft, in welcher es keine Menschen mehr gibt und verwaiste Götter durch die Straßen irren, in eine Welt, in der Menschen in Zeitschleifen gefangen sind und nur noch online in Kontakt bleiben, oder in die Welt der „Dreamblood Duology“, wo Magie eng mit Schlaf und Traum verbunden ist.
Einige Geschichten verbinden auch die Geschichte der Amerikas mit Fantasy- oder Science-Fiction-Elementen. Zum Beispiel lernt man eine Angehörige der afroamerikanischen Widerstandsbewegung kennenlernen, die sich auf einen fatalen Handel mit einem Feenwesen einlassen muss. „The Effluent Engine“ war eine meiner Lieblingsgeschichten, weil sie das traditionell eurozentrische Steampunk-Genre, in dem gerne mal die hässlichen Realitäten des Kolonialismus ignoriert werden, benutzt, um eine alternative Geschichte der Jahre nach der haitianischen Revolution (→ Wikipedia ) zu schreiben. Die originelle, actionreiche Geschichte leidet aber ein wenig an den Restriktionen des Kurzgeschichtenformats, da eine wichtige Beziehung durch die Kürze des Texts und des abgedeckten Zeitrahmens zu einer Zeitraffer-Entwicklung gezwungen wird.
In anderen Geschichten geht es um personifizierte Städte und das Leben unter einem rosafarbenen Himmel, um das nach dem Hurrikan Katrina überflutete New Orleans und ein Mädchen, dessen Intelligenz und Ehrgeiz sie zu einer Außenseiterin machen. Einige Geschichten sind auch mit den Roman-Universen Jemisins verknüpft.
Die Vielfalt der auftretenden Charaktere ist sehr groß. Wir lernen eine aufbrausende italienische Köchin kennen, eine muslimische Forscherin, die mit zahlreichen anderen Frauen auf einem Planeten gestrandet ist, einen New Yorker Obdachlosen, eine lesbische haitianische Spionin und eine Frau, die Kinder großzieht, nur, damit deren Körper unheimlichen Wesen als Wirte dienen können. All diese Figuren haben ihre ganz eigenen Stimmen.
Ebenso experimentiert Jemisin mit verschiedenen Erzählstilen. Einige Geschichten sind so gut wie nur als Nachrichten-Wechsel geschrieben, wieder andere wirbeln die Chronologie der Ereignisse durcheinander und in der ersten Geschichte wendet sich die Erzählinstanz direkt an die Leser*innen. Wie bei den meisten Anthologien ist die Vielfalt der Geschichtensammlung Stärke und Schwäche zugleich, da wahrscheinlich jede/r Leser*in Geschichten finden wird, die sie/ihn/* weniger ansprechen als andere, aber die Qualität ist durchgängig hoch.

Fazit
„How Long 'til Black Future Month“ ist eine intelligente, gesellschaftskritische Anthologie, die zeigt, wie vielfältig das Fantasy- und Science-Fiction-Genre und seine Protagonist*innen sein können.

Buchdaten
Verlag: Orbit (November 2018)
Übersetzung: Hoffentlich!

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Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.
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Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt.  Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).
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