Jahresrückblick 2019
Swantje Niemann • 22. Dezember 2019

Bild: Gerd Altmann auf Pixabay
Rückblick
2019 war ein seltsames Jahr – ich hatte das Gefühl, dass der Großteil davon unbemerkt an mir vorbeigeglitten ist, bis sich plötzlich etwa Mitte Oktober die gefühlt Zeit verlangsamte und ich immer wieder staunte, wie viel Monat noch übrig war. Das hatte unter anderem etwas damit zu tun, dass ich es irgendwie geschafft habe, im Rahmen des NaNoWriMo den Roman zu schreiben, der mir schon lange im Hinterkopf und in zahlreichen, aufgegebenen Anfängen in Ordnern auf meinem Laptop herumspukte. Nun ist er bei meinem ersten Testleser und ich bin gespannt auf die Reaktionen.
Aber bei genauerem Hinsehen trügt auch mein Eindruck von der vernachlässigbaren ersten Jahreshälfte. Immerhin ist Drúdir 2 erschienen und hat die eine oder andere positive Rezension erhalten.
Ich war auf der Leipziger Buchmesse und hatte sogar eine Lesung dort. In Leipzig, in Frankfurt, beim LitCamp Berlin, wo ich den Organisatorinnen ein wenig assistieren konnte, und schließlich auch auf der Buch Berlin habe ich Menschen getroffen, die ich bisher nur aus dem Internet kannte. Allmählich werden solche Veranstaltungen von einschüchternden Angelegenheiten zu willkommenen Gelegenheiten, gute Bekannte wiederzusehen.
In diesem Jahr bin ich auch noch einmal kritisch Drúdir 1 durchgegangen – ein Buch, auf das ich stolz bin, aber in dem ich heute einiges anders, mit entschieden mehr Sensibilität bei der Darstellung wichtiger Themen schreiben würde. Nächstes Jahr werde ich darüber schreiben, um welche Änderungen ich meinen Verleger gebeten habe.
Was steht 2020 bevor?
Ich werde mein Studium (M.A. Europäische Kulturgeschichte) abschließen und anfangen, als Lektorin bei dem Berliner Kleinverlag Periplaneta zu arbeiten. Im späten Frühling geht Drúdir 3 ins Lektorat, um dann im Herbst zu erscheinen. Mit ein bisschen Glück werde ich einen Verlagsvertrag für ein Urban-Fantasy-Manuskript abschließen, dass ich im Dezember 2019 beendet habe. Ich hoffe sehr, dass ich es auf die Leipziger Buchmesse schaffe. Die Frankfurter Buchmesse dieses Jahr war sehr schön, aber auch zeitaufwendig und teuer, und ich weiß nicht, ob ich das nächstes Jahr schon wieder machen möchte. Dafür bleibt die Buch Berlin ein Pflichttermin.
Und hier kommt noch eine Best-Of-Liste meiner Lieblingslektüre von 2019
Spannendstes Setting
Der Schauplatz von „Perdido Street Station“, das düstere, vielschichtige New Crobuzon, hat sich mir zutiefst eingeprägt. China Miéville geht ungewöhnlich mit Perspektive um, zoomt mal ganz nah heran und liefert dann wieder große Panorama-Aufnahmen und historische und politische Kontexte, um das komplexe Bild einer Stadt zu zeichnen, die bei all ihrer Seltsamkeit überzeugt.
Eine andere Stadt, die sich für mich absolut real angefühlt hat, ist Janloon aus „Jade City“. Fonda Lee entwirft das Bild einer organischen, historisch gewachsenen Kultur. Ebenso bin ich ein großer Fan von Robert Jackson Bennetts Rennaissance- Cyberpunk-Welt in „Foundryside“.
Schließlich hat mich noch das Worldbuilding von „The Black Tides of Heaven“ beeindruckt. Auch wenn J.Y. Lang meinem Empfinden nach versucht hat, zu viel Geschichte in eine dünne Novelle zu packen, war es dennoch ein schönes Erlebnis über eine ungewöhnliche Fantasywelt zu lesen, in der Dinosaurier herumlaufen und das Geschlecht eines Menschen nicht bei der Geburt festgelegt wird.
Beste Figuren/Beziehungen
Eine andere Stadt, die sich für mich absolut real angefühlt hat, ist Janloon aus „Jade City“. Fonda Lee entwirft das Bild einer organischen, historisch gewachsenen Kultur. Ebenso bin ich ein großer Fan von Robert Jackson Bennetts Rennaissance- Cyberpunk-Welt in „Foundryside“.
Schließlich hat mich noch das Worldbuilding von „The Black Tides of Heaven“ beeindruckt. Auch wenn J.Y. Lang meinem Empfinden nach versucht hat, zu viel Geschichte in eine dünne Novelle zu packen, war es dennoch ein schönes Erlebnis über eine ungewöhnliche Fantasywelt zu lesen, in der Dinosaurier herumlaufen und das Geschlecht eines Menschen nicht bei der Geburt festgelegt wird.
Beste Figuren/Beziehungen
Ich hätte Brian McClellans Flintlock-Fantasy-Trilogiefinale „Blood of Empire“ beinahe in die Action-Kategorie gepackt, aber letztlich waren es Vlora und Michel, deretwegen ich das Buch wirklich genossen habe. In Vloras Geschichte begegnen sich dunkle und triumphale Momente, eskapistisch-spektakuläre Darstellungen von Gewalt mischen sich mit einer sehr realistischen Darstellung davon, wie sie die Psyche der Beteiligten belastet. Michel, der Meisterspion, muss in „Blood of Empire“ durch eine komplexe Situation voller widerstreitender Loyalitäten navigieren, und zeigt neue Facetten seiner Persönlichkeit. Darüber hinaus finde ich McClellans Darstellungen von Paaren toll: erwachsene Menschen, die wissen, dass sie sich absolut aufeinander verlassen können.
Auch hier verdient „Jade City“ eine Erwähnung, denn die drei Kaul-Geschwister sind vielschichtige, einprägsame Figuren, mit denen ich nur zu gerne Zeit verbracht habe. Ebenso muss ich mal wieder von Mark Lawrence‘ „Book of the Ancestor“-Trilogie schwärmen – so viele markante Frauenfiguren mit vielfältigen, sich dynamisch entwickelnden Beziehungen.
Unterhaltsamste Action
Auch hier verdient „Jade City“ eine Erwähnung, denn die drei Kaul-Geschwister sind vielschichtige, einprägsame Figuren, mit denen ich nur zu gerne Zeit verbracht habe. Ebenso muss ich mal wieder von Mark Lawrence‘ „Book of the Ancestor“-Trilogie schwärmen – so viele markante Frauenfiguren mit vielfältigen, sich dynamisch entwickelnden Beziehungen.
Unterhaltsamste Action
Bücher, die ich deshalb genossen habe, weil ich mich bei ihrer Lektüre gedanklich mit Popcorn zurücklehnen konnte, waren Steve McHughs „Sorcery Reborn“, V.E.Schwabs Supervillain-Roman „Vicious“, Elea Brandts düsterer Fantasy-Thriller „Opfermond“ und Sarah Gaileys originelle Novelle „River of Teeth“ – hier finden Leser*innen nicht nur Flusspferde, sondern auch eine Menge Diversity.
Bestes Gedankenfutter
Mehr als ein Jahr nach dem Hype habe ich „The Hate U Give“ von Angie Thomas gelesen, einen YA-Roman, in welchem eine von Polizeigewalt betroffene junge Schwarze Amerikanerin zu Wort kommt. Es ist ein Buch, das ich absolut empfehlen kann. Ich habe auch endlich N.K. Jemisins „Broken Earth“-Trilogie beendet und fand „The Stone Sky“ und fand den letzten Band genauso klug wie den ersten. Ebenso spannend fand ich Steven Eriksons „Rejoice, a knife to the heart“ – ein Buch über eine Alien-Intervention, das sehr viel über Menschen verrät.
Beste stur-hoffnungsvolle Figuren
Ich muss zugeben, dass mich ein paar Aspekte der Diskussion um Hopepunk ein wenig genervt haben (mehr dazu vielleicht nächstes Jahr), aber auch ich habe mich ertappt, dieses Jahr gerade die Bücher am meisten zu genießen, die sich als überraschend optimistisch erwiesen haben. Da war z.B. "Sieben", der dritte Teil der „Vagrant“-Trilogie, in welcher das Mitgefühl der Hauptfiguren auch die Apokalypse überlebt, oder die „Greatcoats“-Tetralogie mit ihrem Wechsel zwischen Over-the-Top-Elend und Over-the-Top-Bestätigung, dass hoffnungsvolle, prinzipientreue Individuen eine Menge bewirken können. Auch „Holy Sister“ hatte in Puncto Hoffnung, Freundschaft und Vergebung einiges zu bieten.
Sachbuch-Highlights
2019 habe ich ungewöhnlich viele Sachbücher gelesen. Meine Favoriten darunter waren Amitav Ghoshs "The Great Derangement", das in seiner Auseinandersetzung mit dem Klimawandel Natur- und Kulturwissenschaft vermischt, David Graebers "Bullshit Jobs", das mit Arbeit abrechnet, die sinnlos und belastend ist, und Alice Hasters' "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten", das viel von dem, was ich im Verlauf der letzten beiden Jahre aus verschiedensten Online-Quellen zu dem Thema gelernt habe, noch einmal kompakt und zugänglich zusammenfasst.

Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.

Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt. Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).