Rezension: G. Willow Wilson - Alif der Unsichtbare

Swantje Niemann • 4. November 2018

Gelegentlich habe ich das Gefühl, dass sich die Urban Fantasy nur noch wiederholt. Und dann stoße ich auf ein Buch wie dieses und ändere meine Meinung.

Klappentext
Alif, ein junger Hacker in einem arabischen Emirat, sieht es als seine Berufung an, seinen Klienten Anonymität und Schutz vor staatlicher Überwachung zu bieten, ganz gleich welcher politischen Gruppierung sie angehören. Doch als er selbst ins Fadenkreiz der Regierung gerät und sein Rechner gehackt wird, muss Alif sein bisheriges Leben hinter sich lassen und untertauchen.
Dass ihm zudem ein uraltes Buch mit dem Titel „Tausendundein Tag“ in die Hände gespielt wird, verkompliziert die Sache enorm. Denn sein Inhalt enthüllt die reale Existenz der Dschinn und scheint der Schlüsel zu einer neuen Informationstechnologie zu sein ...

Handlung
Der junge Mann, den seine Kunden und Internetbekanntschaften nur als Alif kennen, lebt als Sohn der Zweitfrau eines bedeutenden Mannes ein Leben in bescheidenem Wohlstand – und hat gleich zwei Geheimnisse. Zum einen bietet er als „Gray Hat“ seine Dienste als Hacker jedem an, der sie benötigt. Zum anderen ist er heimlich mit der schönen, klugen Intisar zusammen, die gesellschaftlich gefährlich weit über ihm steht. Als ihre Familie sie verheiraten will, trennt sie sich von Alif. Verzweifelt und vor den Kopf gestoßen stürzt sich dieser in die Arbeit an einem ganz besonderen und potenziell sehr gefährlichen Computerprogramm. Doch diese findet ein jähes Ende, als er gehackt wird. Und zu allem Überfluss spielt ihm Intisar noch ein ganz besonderes Abschiedsgeschenk zu: Ein uraltes Buch mit dem Titel „Alf Yeom“, hinter dem so einige (nicht ausschließlich menschliche) Leute her sind.
Zusammen mit seiner Nachbarin Dina, die das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, muss Alif sein vertrautes Leben hinter sich lassen, um den Fängen des Geheimdiensts zu entgehen. Seine Flucht führt ihn an zwielichtige Orte – und darüber hinaus, denn er lernt das geheimnisvolle Reich der Dschinn kennen, das mit der Welt der Menschen verflochten ist. Er findet an unerwarteter Stelle Beschützer, aber auch mächtige Feinde, und muss mehr als einmal um sein Leben fürchten.
Die nicht näher bezeichnete arabische Stadt, in der „Alif der Unsichtbare“ spielt, ist keineswegs nur eine exotische Kulisse, sondern wird von den Figuren mit den Augen von Menschen gesehen, die hier zu Hause sind. Alif und Dina, beide Kinder von Immigranten, kennen die mehr oder weniger subtilen sozialen Hierarchien, durchschauen, was bloß eine Inszenierung für Touristen ist und bewegen sich mit großer Vertrautheit durch ein für westliche Leser*innen tendenziell eher ungewöhnliches Setting, in dem Religion und Politik eine große Rolle spielen – nicht nur, weil Alif die im Koran beschriebenen Dschinn begegnen. Islamische Mythologie und Philosophie vermischen sich auf spannende Weise mit Linguistik und Informatik. Und die gesamte Handlung wäre ohne den Hintergrund strenger Zensur, brodelnder Wut in der größtenteils armen Bevölkerung und Willkürherrschaft nicht denkbar gewesen.
Ein Minuspunkt der Handlung: Was sie ganz am Anfang in Gang setzt, ist eine Reihe recht unkluger und unsympathischer Entscheidungen Alifs (zum Beispiel verschafft er sich ohne deren Wissen Zugriff auf Intisars Computer), aber die späteren Wendungen entschädigen dafür.

Figuren
Alif beginnt den Roman als ein intelligenter, aber unreifer und unbedachter junger Mann, dessen Gedanken zunächst nur um seine eigenen verletzten Gefühle kreisen und der teilweise nicht bedenkt, welche Konsequenzen seine Handlungen haben werden. Auf die Gefahr, mit der er sich plötzlich konfrontiert sieht, reagiert er zunächst mit sehr nachvollziehbarer Panik und Hilflosigkeit. Im Verlauf der Handlung durchläuft er jedoch eine große Entwicklung.
Seine Nachbarin Dina, die er, seit sie begonnen hat, sich zu verschleiern, primär als etwas langweilig und sonderbar und oft überhaupt nicht wahrgenommen hat, überrascht ihn mit ihrer Mischung aus Besonnenheit und Tatkraft und mit einem weitaus kritischeren Geist, als er ihr zunächst zugetraut hätte.
Eine weitere wichtige Figur ist der Dschinn Vikram. Mit seiner einschüchternden Präsenz, seiner Arroganz und seinen überraschenden Bemerkungen ist er eine der einprägsamsten Figuren des Romans und eine durchaus ambivalente Gestalt.
Alifs größter Gegenspieler erweist sich, als er ihn schließlich kennenlernt, als eine relativ einseitige Figur, der man herzlich ein baldiges Ende wünscht.

Stil
„Alif der Unsichtbare“ ist in der dritten Person und im Präteritum geschrieben. Einige wenige Formulierungen sind holprig, andere dagegen spannend und ungewöhnlich, meist fließt der Text aber unmerklich dahin. Es gelingt G. Willow Wilson gut, sowohl die reale Welt als auch die Dschinn-Welt mit ihrer ungewöhnlichen Magie, verwirrenden Atmosphäre und ihren manchmal beinahe lustigen Anachronismen (an einer Stelle hilft Alif einem Dschinn, dessen Laptop von Malware zu befreien) zum Leben zu erwecken. Ich bin jedoch darüber gestolpert, dass eine amerikanische Austauschstudentin, die Alif hilft, die ganze Zeit über nur als „die Konvertitin“ bezeichnet wird, obwohl sie zu einer relativ wichtigen Figur und immer wieder erwähnt wird (wobei das eine bewusste stilistische Entscheidung sein kann, da viele Figuren, unterstützt von der Erzählweise, ein Geheimnis um ihre Namen machen). Das Buch ist durchgängig spannend und steuert seine Figuren in verzweifelte Situationen, gönnt ihnen aber auch kraftvolle Momente des Triumphs oder der Erleichterung.

Fazit
G. Willow Wilson ist ein origineller Roman gelungen, in dem viele verschiedene Elemente sich zu einem spannenden, atmosphärischen Ganzen zusammenfügen und Leser*innen immer wieder überrascht werden.

Buchinfos
Verlag: Fischer Tor (Februar 2018)
Originaltitel: Alif the Unseen
Übersetzerin: Julia Schmeink

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Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).
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