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Rezension: Rebecca Gablé - Hiobs Brüder

Swantje Niemann • März 20, 2018

In "Hiobs Brüder" beschreibt Rebecca Gablé eine ebenso spannende wie blutige Epoche der englischen Geschichte aus der Perspektive derjenigen, die sonst selten zu Wort kommen.

Klappentext

Er weiß nicht, wer er ist, und so nennen sie ihn Losian. Mit einer Handvoll anderer Jungen und Männer lebt er eingesperrt in einer verfallenen Inselfestung vor der Küste Yorkshires. Als eine Laune der Natur ihnen den Weg in die Freiheit öffnet, wagen sie die Flucht zurück auf das Festland. Ein Abenteuer beginnt und ein Suche – und Losian muss fürchten, dass er den grauenvollen Krieg verschuldet hat, unter dem ganz England leidet…


Inhalt

England 1147: Die Männer, die wegen körperlicher Missbildungen oder psychischer Krankheiten von Mönchen auf einer verlassenen Insel weggesperrt wurden, haben wenig Hoffnung, die Außenwelt je wieder zu sehen. Sie bekommen nichts von dem Bürgerkrieg mit, der das Land zerreißt: Nach dem Tod des Königs streiten seine Tochter Maud und sein Neffe Stephen um die Herrschaft. Die Ordnung im Land ist nahezu zusammengebrochen und die Adligen auf beiden Seiten bereichern sich hemmungslos auf Kosten der einfachen Bevölkerung.

Es ist eine Welt im Chaos, in die Losian und die Männer, die er von der Insel retten konnte, zurückkehren, und sie nimmt wenig Rücksicht auf Menschen wie Oswald, der mit dem Down-Syndrom geboren wurde, oder den jungen Ritter Simon, der wegen seiner Epilepsie von seiner Familie verstoßen wurde.

Losian, ein Mann ohne Gedächtnis, aber mit dem Training und der Bildung eines Ritters, findet sich an der Spitze dieser Gruppe von Ausgestoßenen wieder. Obwohl er in seiner Vergangenheit eine Schuld vermutet, die so schrecklich ist, dass er sie vergessen musste, sucht er weiterhin nach Hinweisen auf seine Identität. Als er schließlich erfährt, wer er war, bestätigt sich eine seiner Ahnungen: Er hat eine Schlüsselrolle im Kampf zwischen Stephen und Maud gespielt und wird gedrängt, wieder darin aktiv zu werden. Und in Gestalt des jungen Henry gibt es zum ersten Mal Hoffnung auf einen Thronfolger, auf den sich das Land einigen kann.

Trotzdem kann er nicht so einfach an sein altes Leben anknüpfen. Insbesondere, da einige der Lücken in seiner Erinnerung sich als gefährlich erweisen könnten.

Die Handlung von „Hiobs Brüder“ umspannt mehrere Jahre und wechselt zwischen Politik, persönlichen Fehden, aber auch Liebesgeschichten und den Versuchen der Figuren, trotz ihrer Handicaps ihren Weg im Leben zu finden.


Figuren 

Losian – stolz, unabhängig und mit einer diffusen Schuld belastet – beginnt das Buch als ein zutiefst geheimnisvoller Charakter und wird mit jeder Entdeckung über sich selbst facettenreicher. Aber er ist nicht die einzige interessante Figur. Gerade der Erzählstrang um Simon, der allmählich lernt, dass seine Krankheit ihn keineswegs definiert und eine enorme Entwicklung durchläuft, liest sich sehr befriedigend.

„Hiobs Brüder“ wartet auch mit vielen spannenden Nebenfiguren auf. Die Charaktere sind in der Regel sehr differenziert gezeichnet, die einzige Ausnahme sind einige Antagonisten, die einseitig bösartig erscheinen.


Stil

Der Roman ist durchgängig spannend und liest sich angenehm und flüssig. Die Sprache bricht nie mit dem historischen Setting, ohne dabei jedoch gekünstelt altmodisch zu sein.

Fazit

„Hiobs Brüder“ erzählt englische Geschichte aus einer ungewöhnlichen Perspektive und verknüpft eine Vielzahl von Ideen und Themen zu einer spannenden, stimmigen Geschichte, die vor allem durch lebendige, differenzierte Charaktere überzeugt.

Bastei Entertainment, Oktober 2009

Imprint: Bastei Entertainment

ISBN: 9783838701165

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Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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