Rezension: The new annotated Dracula

Swantje Niemann • 12. Oktober 2019

Da jetzt demnächst bei Fischer Tor die deutsche Übersetzung erscheint und Halloween vor der Tür steht, habe ich mich entschieden, meine alte Rezension zu diesem Buch noch einmal hier zu veröffentlichen.

Klappentext

Traveling through two hundred years of popular culture and myth as well as graveyards and the wilds of Transylvania, Leslie S. Klinger separates fact from fiction and provides information on every aspect of the Stoker novel (including a detailed examination of the original typescript with its shockingly different ending). Employing the literary detective skills for which he has become famous, Klinger mines this 1897 classic for nuggets what will surprise even the most die-hard Dracula Fans. Including:


  • 1,500 notes that provide information on virtually every aspect of the novel
  • hundreds of illustrations, from Victorian maps to movie posters
  • peculiar historical oddities such as the science of blood transfusion
  • a novel approach that for the first time treats Dracula as a historical document
  • new revelations about the cast of characters: Jonathan Harker, Van Helsing, Lucy Westenra, and, of course, the count himself
  • a classic introduction by Neil Gaiman

Rezension

Stokers berühmter Roman beginnt mit der Reise des unerfahrenen Anwalts Jonathan Harker nach Transsilvanien, um dort einem mysteriösen Adligen bei den Vorbereitungen seines Umzugs nach London zu assistieren. Schon bald nach seiner von dunklen Vorzeichen begleiteten Ankunft auf dem verlassenen Schloss werden ihm zwei Dinge klar: 1. Etwas stimmt ganz und gar nicht. 2. Seine Rückkehr ist nicht vorgesehen.

Unterdessen wartet seine Verlobte Mina in einer kleinen Küstenstadt in England auf seine Rückkehr, zusammen mit ihrer Freundin Lucy, die soeben einen von drei Heiratsanträgen angenommen hat. Doch auch dort häufen sich bald seltsame Vorkommnisse: Ein nur mit einer Leiche und einem großen, schwarzen Hund bemanntes Schiff fährt in den Hafen ein, der Psychiater John Seward beobachtet merkwürdige Verhaltensweisen bei einem seiner Patienten, der einen „Meister“ zu erwarten glaubt und Lucy scheint jäh von einer seltsamen Krankheit betroffen, so dass Sewards alter Professor Van Helsing zur Hilfe gerufen wird.

Als Jonathan schließlich zurückkehrt, fügen sich die Puzzleteile allmählich zusammen und es wird klar, dass Dracula, ein uralter Vampir, der im Buch nur einige wenige, aber sehr wirkungsvolle Auftritte hat, hinter allem steckt.

Harker, Mina, Seward, Lucys Verlobter Arthur Holmwood und sein amerikanischer Freund Quincey Morris machen sich auf die Jagd nach einem Feind, dessen Kräfte sie nicht vollkommen begriffen haben und die sie, beginnend im viktorianischen London, durch ganz Europa führt.

Während Arthur Holmwood und Quincey Morris zwar eine wichtige Rolle spielen, aber als Figuren nicht allzu häufig in Erscheinung treten und sich nicht wirklich ins Gedächtnis einschreiben, lernt der Leser Lucy, Mina, Jonathan, Seward und Van Helsing gut kennen (in letzteren Fällen eigentlich besser, als einem lieb ist, handelt es sich doch bei beiden um sehr von sich eingenommene und eher eingeschränkt fähige Männer: Van Helsing ist allzu redselig und fest von ungeprüften Hypothesen überzeugt, Seward wenig flexibel in seinem Denken und ohne jede Empathie für seine Patienten).

Lucy ist naiv und die meiste Zeit über ziemlich aufgekratzt. Im Gegensatz dazu steht die Ruhe der klugen, empfindsamen Mina, die den anderen Figuren bei ihrer Jagd auf Dracula zur Seite steht und wichtige Beiträge leistet und noch mehr hätte leisten können, wenn diese nicht seltsame Vorstellungen darüber gehabt hätten, dass sie als Frau unbedingt abgeschirmt werden müsse. Jonathan stimmt ihrem Ausschluss etwas zu bereitwillig zu, ist aber ansonsten eine recht sympathische Figur, die zutiefst von ihren Erlebnissen auf dem Schloss Draculas und dem Kampf mit ihm gezeichnet bleibt.

Dracula selbst ist eine eindrucksvolle Figur. Er erscheint zwar als einseitig böse, aber seine genauen Absichten und Fähigkeiten bleiben verschwommen, seine Aktionen unberechenbar.

Der Roman setzt sich aus Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Zeitungsausschnitten und Telegrammen zusammen, was dem Ganzen den Charakter eines historischen Dokuments verleiht (als welches Klinger es in seinen Anmerkungen ja auch behandelt hat). Gerade in den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen kommen die individuellen Stimmen und Charaktere der Figuren gut zur Geltung.

Obwohl das Buch so alt ist, empfindet man es beim Lesen als spannend und stellenweise wirklich unheimlich. Stoker hat auch ein Talent für wirkungsvolle Andeutungen, die auf ein weitaus größeres und komplexeres Bild verweisen und so die Welt des Buches zum Leben erwecken.

Darüber hinaus wird der Roman durch die Anmerkungen noch einmal aufgewertet. Leslie S. Klinger ist nicht nur ein sehr guter Kenner der verschiedensten Textfassungen Draculas, sondern auch der viktorianischen Zeit und er hat sich voller Enthusiasmus in die Aufgabe gestürzt, das Buch mit Anmerkungen zu versehen, welche sich auf alles Mögliche beziehen. Da werden Vergleiche und Hintergründe erläutert, auf die Perspektiven anderer „Dracula-Forscher“ verwiesen und über Dracula und das Ausmaß seiner Pläne und Fähigkeiten spekuliert. Tatsächlich hat er es stellenweise sogar ein wenig übertrieben und es ist nicht mit dem Lesefluss vereinbar, alle Anmerkungen zu lesen (einige davon sind ein wenig enttäuschend, der Großteil aber hochinteressant), so dass man den Roman eigentlich zweimal lesen muss, einmal für den Plot, einmal für die Anmerkungen.

Auch die Einleitungen und Anhänge sind sehr lesenswert. Das Schöne am Ansatz Klingers ist, wie Neil Gaiman in seinem Vorwort schreibt, dass er es nicht darauf anlegt, dem Leser zu erklären, worum es „eigentlich“ geht, sondern den ursprünglichen Spaß an der Geschichte und den Spekulationen, zu denen sie einlädt, zu erhalten.

Es gibt auch zahlreiche Bilder (Filmposter, Illustrationen für „Dracula“ und andere Vampirromane, Skizzen, Karten und Fotos, die den Inhalt der Anmerkungen erläutern) und der Umschlag der schweren Hardcover-Ausgabe ist sehr schön gestaltet.

Fazit

„Dracula“ liest sich auch für moderne Leser verblüffend leicht, spannend und atmosphärisch und es ist nur zu verständlich, wieso dieses Buch einen so gewaltigen Einfluss entwickeln konnte. Zwar sind einige der Vorstellungen der Figuren aus der heutigen Perspektive ziemlich befremdlich, aber – auch gerade in Kombination mit den Anmerkungen – gerade daraus ergeben sich auch interessante Einblicke in die Entstehungszeit des Buches. Die Anmerkungen (zumindest viele davon) und Anhänge sind eine echte Bereicherung.

ISBN: 978-0-393-06450-6

Verlag: W.W. Norton

Sprache: Englisch

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Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. 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