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Was bringt historische Recherche für Fantasy?

Swantje Niemann • Juli 10, 2022
Alte Bücher in einem Regal

High Fantasy spielt in Sekundärwelten, die eine andere Geschichte, andere Bedingungen haben als unsere – das ist das Kernmerkmal des Genres. Trotzdem stürzen sich Schreibende regelmäßig tief in Recherchen über vergangene Epochen. Und Lesende bringen mehr oder weniger gute Argumente, wieso ihre Immersion diese oder jene Abweichung von (ihrer Idee) der historischen Realität nicht überlebt hat. 

Über letzteres habe ich bereits relativ ausführlich in meinem Artikel über „Historische Korrektheit“ (und wieso Verweise darauf in Bezug auf Fantasy oft faule und schnell auseinanderfallende Argumente sind) geschrieben. Aber ich wollte mich auch noch einmal damit beschäftigen, wie Geschichtswissen das eigene phantastische Schreiben trotzdem bereichern kann.


Die Vielfalt menschlicher Erfahrung

Die Lektüre vieler historischer Texte führt zu einer Erkenntnis: Die Welten, in denen unsere Vorfahren lebten, sind aus unserer Perspektive sehr, sehr merkwürdig. Nicht nur das Geschehen selbst, sondern auch die Art, wie Menschen es interpretierten, und ihre Idee von ihrer Rolle in der Welt. Die Beschäftigung mit Geschichte – und hier empfehle ich tatsächlich Originalquellen, ergänzt um erklärende Sekundärtexte – ist eine wunderbare Erinnerung an die Vielfalt menschlicher Erfahrung, aus der Ideen für Figurenmotivationen und Konflikte in fiktiven Welten erwachsen können. 

Geschichte kann also, ohne dass allzu direkt Aspekte übernommen werden, ein gutes Gefühl dafür vermitteln, was eigentlich alles möglich ist – das bezieht sich auf große historische Entwicklungen ebenso wie auf unerwartete, fast schon skurrile Details wie den Fakt, dass Assassinen ein Motiv der Minnedichtung des 13. Jahrhunderts waren und dort Treue und Aufopferung für die Geliebte repräsentierten.

Auch war die „reale“ Geschichte sehr viel diverser und überraschender, als man auf der Basis von populärkulturellen Darstellungen annehmen würde: Auf dem Mittelmeer der frühen Neuzeit waren z.B. Piratencrews unterwegs, die sich aus muslimischen Korsaren und christlichen Renegaten zusammensetzten – und auch mal ein Bündnis mit protestantischen Ländern eingingen, um katholischen Nationen zu schaden. 

Auch interessant zu verfolgen ist, wie sich Zuschreibungen von Geschlechtern mit der Zeit veränderten. Sich mit der historischen Entwicklung von Dingen auseinander zu setzen, hilft generell ganz gut, aus dem „das ist/war eben so und muss in jeder überzeugenden fiktiven Welt genauso sein“-Mindset rauszukommen, was sehr bereichernd für das Schreiben sein kann.


Andere Arten des Erzählens

Ebenso können historische Texte daran erinnern, dass wir Geschichten nicht immer so erzählt haben, wie wir sie heute erzählen, und dass es auch stilistisch immer neue Weiterentwicklungen gibt. In meinem Studium habe ich z.B. einen Text darüber gelesen, dass dem „Nibelungenlied“ eine ganz andere Idee von narrativer Kohärenz zu Grunde liegt, als wir sie heute haben. Und Sagas wie „Olafs Saga Tryggvasonar“ aus der „Heimskringla“ (12. Jh) geben einen Einblick in eine Welt, in der das „Natürliche“ und das, was wir heute als „magisch“ oder „übernatürlich“ bezeichnen würden, nicht starr getrennt sind – in dieser Historienerzählung verwandeln sich Magier in Wale und kämpfen vor den Küsten Islands mit Landgeistern. 


Anregungen fürs Worldbuilding

Ebenso kann die Beschäftigung mit Geschichte eine wichtige Inspirationsquelle dafür sein, wie kulturelle und technologische, religiöse und politische Entwicklungen und geografische Gegebenheiten miteinander verflochten sind und sich gegenseitig befördern, blockieren oder erst ermöglichen. Zum Beispiel gibt es starke Argumente dafür, dass Einstellungen zu staatlicher Armenfürsorge heute noch von konfessionellen Traditionen geprägt sind, die wiederum interessante Wechselwirkungen mit wirtschaftlichen Strukturen hatten. 


Historische Agency

Interessant ist auch die Frage: Wer „macht“ Geschichte? Leo Tolstois berühmter Roman „Krieg und Frieden“ wird immer wieder von Passagen unterbrochen, in denen die Erzählinstanz darüber philosophiert, wie selbst die Personen, die wir als „Geschichtsmacher*innen“ bezeichnen würden, von den Bedingungen ihrer Zeit und von den Erwartungen ihrer Zeitgenoss*innen vor sich hergetrieben werden – von der Spannung zwischen strukturellen Bedingungen und individueller historischer Agency. 

Verschiedene Schulen der Geschichtswissenschaft legen mal den Fokus auf die Handlungen von Individuen, von Klassen, von Gruppen, aber auch von geografischen und technischen Gegebenheiten. Auch das ist eine interessante Frage, die unterschwellig in phantastischer Literatur erkundet werden kann. Ein gutes Beispiel dafür ist Guy Gavriel Kays melancholischer, eng an die Geschichte der Song-Dynastie angelehnter Roman „River of Stars“, wo es immer wieder unterschwellig oder explizit um den Platz von Individuen in der Geschichte geht. Meine Rezension zu dem Buch findet ihr bei Literatopia.


Imitation und Inspiration

Wir alle kennen die fantastischen Gegenstücke historischer Kulturen, die quasi als „Abkürzung“ für den Weltenbau fungieren und Lesenden rasch eine Idee vermitteln, wie sie sich das Setting vorstellen können. Gerade, wenn dies gut recherchiert ist, kann das auch sehr gut funktionieren. Ein spannendes Beispiel dafür findet sich in „Gunpowder Gods“. Hier hat sich der Autor, Zamil Akhtar, stark vom osmanischen Reich, von Kreuzrittern und nomadischen Kulturen inspirieren lassen, um eine düstere Geschichte vor dem Hintergrund lebhaften kulturellen Austauschs zu erzählen. 

Dieses sogenannte Coding kann eine Menge Zeit sparen und einen effizienten Weg darstellen, die Vielfalt einer Welt zu zeigen, aber es bringt auch einige Risiken mit sich, z.B. den, real existierende Personengruppen zu exotisieren oder Stereotypen zu stärken. 

Aus der Beschäftigung mit Alltagsgeschichte können auch viele kleine Details entnommen werden, die eine fiktive Welt realistischer erscheinen lassen, zum Beispiel wie bestimmte handwerkliche Tätigkeiten funktionierten. Auch kann man sich bei der Geschichte bedienen, um nicht jedes Mal das Rad neu erfinden zu müssen - ich habe erst vor kurzem ein Sachbuch über verschiedene Ritterorden gelesen, weil ich überlege, mir die Organisationsstrukturen eines solchen Ordens für einen Roman "auszuleihen".

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Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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