Kurzgeschichte zum "Phantastischen Montag"
Swantje Niemann • 28. August 2020

Monatsthema: "Tag der Verschwundenen" und/oder "Frankenstein"
Der "Phantastische Montag" ist ein Kurzgeschichten-Projekt des Berliner PAN-Stammtischs. Wer mich kennt, wird wahrscheinlich überrascht sein, dass ich mich dagegen entschieden habe, etwas zu Mary Shelleys Roman zu schreiben, den ich sehr mag. Die Idee hinter dieser Geschichte (eine Welt, in der die einzige Magie die Fähigkeit einiger Menschen ist, die Erinnerungen anderer auszulöschen, in der "investigative:r Biograph:in" ein Beruf ist und Menschen sich gegen Gedächtnisverlust versichern) begleitet mich schon seit einer ganzen Weile. Es hat sich angeboten, das mit dem "Tag der Verschwundenen" zu verbinden.
Ich betrete die Dachstube und blinzle, geblendet von dem Licht, dass durch eine große, dreckige Scheibe in den Raum fällt. Nach einer Weile haben sich meine Augen daran gewöhnt und ich kann mehr als Umrisse erkennen. Der Raum ist mittelgroß, gesäumt von Bücherregalen. Ich erkenne eine Waage, ein Maßband und eine Liege ebenso wie einen großen, chaotischen Schreibtisch, an den sich Amea Vadaan lehnt. Sie wäre eine unauffällige Erscheinung, wiese sie nicht die selbst in Vecidia seltene Kombination aus dunkelbrauner Haut und blonden Locken auf.
„Was wollen Sie von mir?“
„Wahrscheinlich das gleiche wie die Mehrheit ihrer Kunden: Antworten. Ich habe unter verdächtigen Umständen meine Erinnerungen verloren.“
„Können Sie mich bezahlen.“
„Ich hatte gehofft, dass wir uns da vielleicht auf eine Alternative einigen können. Vielleicht darauf, dass ich Ihnen einen Gefallen schulde.“
„Und was könnten Sie für mich tun?“
„Ich hoffe, das können wir gemeinsam herausfinden.“
Sie nickt langsam. „Nun gut ... Ich denke, wir werden uns einigen können. Was haben Sie verloren?“
„Alle biographischen Erinnerungen. Mein Allgemeinwissen scheint intakt. Ich habe einen großen Wortschatz in mehreren Sprachen, vermute jedoch, dass Vecidisch meine Muttersprache ist.“
„Was wissen Sie, das über Allgemeinwissen hinausgeht?“
„Ich bin ... nennen wir es, misstrauisch. Ich halte unwillkürlich nach verborgenen Waffen und ähnlichem Ausschau ... und nach der Aura von Neuroturgen.“
„Sie selbst sind ...“
„Womöglich.“ Ich verschweige ihr die Leichtigkeit und Präzision, mit der ich diese Fähigkeit einsetzen könnte – mit der ich anderen antun könnte, was mir alle Orientierung geraubt hat und mich hat aus einem Leben verschwinden lassen, das einmal meins war.
Ihre Brust hebt und senkt sich unübersehbar, als sie tief durchatmet. „Nun gut. Ich schätze, ich sollte Sie darüber informieren, dass ich unter dem Schutz einiger sehr mächtiger Menschen stehe und dass der junge Mann, der sie empfangen hat, nie ein Gesicht vergisst.“
Nun ist es an mir, jähe Beunruhigung niederzukämpfen. „Verstanden. Was ist das hier für ein Ort?“
„Zur Möwe im Sturzflug ist neutrales Territorium. Hier können Menschen, die verschiedenen Gruppierungen angehören, die lieber unter dem Radar der Behörden bleiben, Verhandlungen führen, medizinische Hilfe erhalten – oder meine Dienste in Anspruch nehmen.“
Ich lächele schief. „Gut zu wissen.“
„Dann fangen wir mal an. War das die Kleidung, in der sie zu sich gekommen sind?“
Ich nicke.
„Hm. Einfache, praktische Kleidung, aber auf der modischen Seite. Eingenähte Schilder?“
„Nein. Ich nehme an, dass es sich um Massenware handelt – von der Stange gekauft und in einer Schneiderei geändert. Relativ neu.“
„Würden Sie ihr Oberteil ausziehen? Ich möchte mir ihren Körper anschauen“
„Bringt das etwas?“
„Natürlich. Ihr Körper erzählt Ihre Geschichte – er ist von ihrer Umwelt geformt, ihren Gewohnheiten und Vorlieben, den Erwartungen und Schönheitsidealen, mit denen sie aufgewachsen sind. Auch wenn die Frau, die ihn geschaffen hat“ – sie deutet auf meine Stirn – „jetzt nicht mehr da ist, können wir ein paar Schlüsse auf sie ziehen.“
Wieder lächle ich freudlos. „Ein bisschen verantwortungslos von ihr, sich einfach so davonzumachen. Ich frage mich, warum." Habe ich mein Schicksal herausgefordert?
„Ich hoffe, wir finden das gemeinsam heraus. Bis dahin lassen Sie uns mit den Schuldzuweisungen warten.“
Ich schlüpfe aus Mantel und Oberteil. Darunter trage ich ein enges Bustier wie es auch Athletinnen benutzen, die nicht wollen, dass ihre Brüste schmerzhaft auf und abhüpfen. Bei mir gibt es da nicht viel festzuhalten, aber immerhin bewahrt es mich davor, mich völlig nackt Ameas Blick preisgeben zu müssen. Es ist es ein kühler, klinischer Blick, der nicht nach Schönheit, sondern nach Funktion fragt, aber er macht mich trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – nervös. Fürchte ich, keine Antwort zu erhalten, oder fürchte ich, was sie herausfinden könnte?
„Ihr linker Unterarm – könnten Sie ihn vor ihr Gesicht heben ... Ja, das dachte ich mir.“
„Was?“
„Ich glaube, Sie haben sich diese Narbe zugezogen, als sie einen Messerstich abwehrten.“
„Hm“, sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen.
Als Nächstes betrachtet sie meine Hände. „Hornhaut auf den Fingerkuppen – ich tippe auf ein Seiteninstrument. Winzige, nahezu verblasste Schnitte auf den Fingern. Die Nägel kürzer, als es gerade in Mode ist. Etwas breitere Handflächen, wie sie Menschen bekommen, die eine zeit lang auf Krücken gegangen sind.“ Sie streicht über meinen rechten Mittelfinger. „Eine kleine Erhebung, wo ein Stift aufliegt. Sie haben wohl viel geschrieben.“ Sie lächelt schief. „Die Hände einer Akademikerin, die Narben einer Kämpferin.“
Sie tritt einen Schritt zurück, betrachtet meinen Oberkörper. „Sie müssen viel Sport getrieben haben.“ Sie deutete auf ein ausgeblichenes Filmposter hinter sich an der Wand. „Können Sie den Namen des Regisseurs und der Hauptdarstellerin lesen?“
„Ja.“
„Dann sind sie wahrscheinlich nicht kurzsichtig. Warten Sie mal... Könnten Sie sich das Haar aus dem Gesicht streichen.“
Ich tue wie geheißen.
„Ihre Ohrstecker. Geben Sie sie mir, bitte..“
Ich folge Ihrer Anweisung. „Sind die etwas wert?“, frage ich hoffnungsvoll.
„Das werden wir gleich sehen.“ Sie nimmt sie entgegen, doch sie gleiten ihr aus den Fingern – zumindest glaube ich das im ersten Moment, bevor ich begreife, dass sie den Schmuck mit Absicht hat fallenlassen. Ich will sie schon aufheben, aber da stampft sie mit einem ihrer harten, flachen Stiefelabsätze darauf.
„He!“, protestiere ich, aber sie grinst triumphierend und holt zwischen Glasscherben und verbogenem Metall einen hauchdünnen Zettel hervor, und präsentiert ihn mir. „Ich wusste doch, dass eine sonst so praktisch gekleidete Frau, die sich auf einen Kampf vorbereitet hat, einen guten Grund braucht, um auffälligen Schmuck zu tragen. Der hier war zwischen Stein und Fassung versteckt.“

Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.

Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt. Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).