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"Literarische Phantastik" - 9 Empfehlungen

Swantje Niemann • Nov. 13, 2020
9 Bücher, man sieht nur den Schnitt
Was macht Phantastik "literarisch"?
Ich habe in meinem Blogpost zum Thema „Was ist eigentlich Hochliteratur“ die Frage gestellt, ob das Wort (hoch)literarisch irgendeine Aussagekraft besitzt – und zu meiner eigenen Überraschung festgestellt, dass es das das tut. Allerdings fand und finde ich die Trennlinie zwischen Literatur und Genre allzu scharf gezogen und glaube, dass Leser*innen, die literarische Fiktion bevorzugen, in der Phantastik mehr Lektüre nach ihrem Geschmack finden könnten, als angenommen.

In diesem Blogpost stelle ich euch ein paar Bücher vor, auf die Folgendes zutrifft:
  • Das Buch erkundet eher eine Idee und/oder das Innenleben der Figuren, als dass sein großer „Selling Point“ ein actionreicher Plot ist. Der Plot ist in vielen Fällen sehr gut, aber ist eher Vehikel für Ideen oder Katalysator für spannende Figurenentwicklungen und -Gedanken.
  • Handlung, Figuren und Erzählweise brechen mit Konventionen.
  • Die Schreibenden haben interessante stilistische Entscheidung getroffen.
  • Lesende werden zum Nachdenken angeregt.
Broken Earth
N.K. Jemisin beginnt den ersten Roman der Trilogie mit dem Ende der Welt. Sie arbeitet gekonnt mit verschiedenen Zeitebenen, bringt in einem der drei Erzählstränge das sonst verrufene Erzählen in der zweiten Person zum Funktionieren und erzählt eine düstere, sehr politische Geschichte voller Wut, aber auch mit einem Funken Hoffnung. Der Schauplatz der Geschichte teilt die große Stärke vieler anderer Fantasywelten, dass er mit einem originellen Magiesystem aufwartet und dass es ein großes Geheimnis in der Vergangenheit dieser Welt gibt, das im Verlauf der Trilogie gelüftet wird. Es ist eine gnadenlose, von Erdbeben geschüttelte Welt. Sie hat Gesellschaften hervorgebracht, die von Unterdrückung durchdrungen ist, und Jemisin beschreibt unter anderem beklemmend, wie diese einen Weg in die Köpfe ihrer Figuren findet.

Deathless
In „Deathless“ verbindet Catherynne M. Valente das Russland des 20. Jahrhunderts mit den Sagen um „Koschei the Deathless“. Sie erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die von einem übernatürlichen Wesen entführt wird. Zwischen den beiden entspinnt sich eine zerstörerische Liebesgeschichte, die unbehaglich zu beobachten ist und auch sein soll. Marya, die Protagonistin, bewegt sich zwischen zwei Welten. Sowohl die magische als auch die reale Welt sind hier Orte voller kaum verborgener Grausamkeit. Marya ist entschlossen, sich in ihnen zu behaupten. „Deathless“ ist in einer poetischen Sprache geschrieben. Immer wieder gibt es Anklänge an die Märchen, die der Roman letztlich komplett auf den Kopf stellt. 

The Left Hand of Darkness
Ursula K. Le Guins berühmter Roman über einen Planeten, auf dem es nur ein einziges Geschlecht gibt, steht zurecht in dem Ruf, ein Meisterwerk der Science-Fiction zu sein. Er ist vor allem berühmt für seine Reflektionen zum Thema Geschlecht, die teils im Kopf des sehr voreingenommenen Protagonisten, aber noch viel mehr in dem der Leser*in stattfinden. Aber das ist nicht das einzelne Thema, um das es hier geht. Die Sprache des Romans ist von einer scharfen Beobachtungsgabe geprägt und die Welt ist nicht nur konzeptuell interessant, sondern wird auch auf eine Weise beschrieben, die sie lebendig werden lässt.

The Dispossessed
Noch ein Roman Ursula K. le Guins: In „The Dispossessed” lernen Lesende den Urras Anarres kennen, auf dem eines der größten Experimente der Menschheitsgeschichte stattfindet. Ehemalige Bewohnerinnen des Planeten Urras versuchen in ihrem Exil, eine anarchistische Gesellschaft zu realisieren. Le Guin macht es sich nicht leicht dabei, ihre „ambige Utopie“ zu schildern – sie zeigt sie in Krisenzeiten, aus der Sicht einer Figur, die sich manchmal von ihr eingeengt führt. Eine nachdenkliche machende Begegnung von zwei Welten. 

Dandelion Dynasty
Ken Lius Epos „Dandelion Dynasty“ ist eine Serie, die mal mit der Distanz eines Epochen umspannenden Epos, aber manchmal auch voller Nähe und Mitgefühl für einzelne Figuren, die Geschichte einer erfolgreichen Revolution erzählt, auf welche die große Frage folgt: Was jetzt? Es gibt große Schlachten und Gottheiten haben ihre Finger im Spiel, aber letztlich liegt der Fokus des Buches auf den Figuren und auf der Frage, wie Herrschaft zum Wohle aller funktionieren kann.

Exit West
Mohsin Hamid erzählt die Geschichte eines jungen Paars, dem mysteriöse magische Türen, die sich überall auf der Welt öffnen, die Flucht aus einem Kriegsgebiet eröffnen. Empathisch, aber auch zurückhaltend, werden die Erlebnisse der beiden und ihre jeweilige Entwicklung beschrieben, vor dem Hintergrund einer Welt, in der Grenzen einen Teil ihrer Bedeutung verloren haben, was einige Menschen bereitwillig akzeptieren und andere nicht. 

Frankenstein
Mary Shelleys Klassiker ist aus gutem Grund eines meiner Lieblingsbücher. Es ist vor allem dafür bekannt, eines der ikonischsten Monster der Horrorliteratur geschaffen zu haben, aber sein Ruf wird dem Buch nicht gerecht. „Frankenstein“ hat seine Probleme – z.B. einen Mangel an interessanten Frauenfiguren –, aber auch große Stärken. Darunter ist die Erzählstruktur der Geschichte in der Geschichte im Briefwechsel, die Lesende dazu bringt, sich mit Figuren und deren Ansichten zu identifizieren, nur um ihre Meinung dann jäh zu hinterfragen. Darüber hinaus sind in das Buch Ideen eingeflochten, deren Fortschrittlichkeit so einige Lesende überraschen dürfte – aus der Perspektive des Außenseiters, des Monsters, werden so einige Defizite der menschlichen Gesellschaft sichtbar.

Der letzte Schattenschnitzer
Christian von Aster greift das Motiv des verlorenen bzw. eigenständig handelnden Schattens auf. „Der letzte Schattenschnitzer“ ist eine vielstimmig erzählte Geschichte – es gibt eine nüchterne Erzählstimme, einen Ich-Erzähler mit seiner ganz eigenen Stimme und natürlich mehrere Figuren. Langsam entspinnt sich bemerkenswerte Geschichte mit einprägsamen Protagonisten. 

This is how you lose the Time War
Amal el-Mohtars und Max Gladstones Briefroman geht davon aus, dass das Publikum vertraut genug ist, um die Lücken in der Geschichte zu füllen, sich die spektakulären Raumschiffschlachten und historischen Panoramen auszumalen, deren Existenz nur angedeutet wird. Der wahre Fokus des Buches liegt auf Red und Blue, zwei Agentinnen aus konkurrierenden Zukünften, die „flussaufwärts“ und „flussabwärts“ reisen, um die Geschichte in die von ihrer Fraktion gewünschten Bahnen zu lenken. Ihre Briefwechsel sind verwirrend, voller sinnlicher Details und sprachlicher Verspieltheit. Das Geschehen um sie herum und die Hintergründe ihres Agierens werden jedoch nie vollständig erklärt. Nicht mit dem Genre und langsamer Exposition vertraute Lesende werden vielleicht vor einem Buch zurückschrecken, das Lesenden so wenig Orientierung bietet, aber diejenigen, die sich auf diese Geschichte in teils freischwebenden Puzzleteilen einlassen, erwartet eine poetische Liebesgeschichte voller einprägsamer Bilder.

Vier der im Beitrag beschriebenen Bücher in einem weißen Regal
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Ich habe dieses Jahr wieder einige Bücher entdeckt, die ich nur zu gerne weiterempfehle.
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Gleich noch ein spannendes Team-Projekt!
Cover des Romans
von Swantje Niemann 04 Nov., 2023
"Königsgift" und seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte
Die Bücher
von Swantje Niemann 22 Apr., 2023
Die Liste der Bücher, die sich mir 2022 eingeprägt haben, ist mal wieder sehr lang geworden. Hier sind ein paar davon: Fantasy 2022 habe ich die „Green Bone“-Saga beendet und zusätzlich die Novelle „The Jade Setter of Janloon“ gehört. Fonda Lee führt die Geschichte um den No-Peak-Clan zu einem sehr befriedigenden Ende und weitet immer weiter aus, wie viel von ihrer sehr modern und realistisch anmutenden Sekundärwelt ihre Geschichte abdeckt. Sie schreibt charismatische, moralisch ambige Figuren, die sich beim Lesen ins Gedächtnis schreiben und deren Überzeugungen und Charakterzüge überzeugende Wechselwirkungen mit ihrer Gesellschaft haben. Ich habe im letzten Jahr auch den bisher neuesten Band der „Masquerade“-Reihe von Seth Dickinson gelesen. „The Tyrant Baru Cormorant“ ve rvollständigt das relativ unbefriedigende „The Monster Baru Cormorant“ zu einem schließlich doch sehr überzeugenden Ganzen. Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
Print-Ausgaben von
von Swantje Niemann 13 Apr., 2023
Zwei sehr verschiedene Bücher erzählen beide in der ersten Person. Ich schaue mir mal genauer an, was ihren Ansatz dabei unterscheidet und wieso das in beiden Fällen sehr gut funktioniert.
Titelseite einer Ausgabe von
26 Nov., 2022
Zusammenfassung, Rezension und ein bisschen Literaturepochen-Kontext
Rostige Krone liegt auf Moos
von Swantje Niemann 12 Sept., 2022
Ein paar Überlegungen zu einem Lieblingstrope des Fantasygenres.
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Eine kleine Reflektion über Buchjournals, Rezensionen und dergleichen
Alte Bücher in einem Regal
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Fantasy, auch solche in von der Vergangenheit inspirierten Settings, kann Geschichte nicht einfach kopieren. Trotzdem ist die Beschäftigung damit mitunter eine echte Bereicherung fürs Schreiben.
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5 Buchtitel, die sofort meine Neugier geweckt haben.
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