Schreiben: Tipps und Analysen - Pacing

Swantje Niemann • 27. Februar 2019

Ein paar Gedanken zum Erzähltempo.


Pacing (schon wieder ein Anglizismus – angesichts dessen, dass mein Bachelor eine Literaturwissenschaftenkomponente hatte, bin ich verblüffend schlecht darin, auf Deutsch über Literatur zu reden) ist die Geschwindigkeit, in der die Handlung fortschreitet – und entscheidend dafür, wie sich das Buch „anfühlt“.

Was sorgt dafür, dass eine Geschichte schnell oder langsam abzulaufen scheint?

„Beschleuniger“

  • unerwartete Wendungen
  • Enthüllungen
  • Action
  • offene Konfrontation
  • jede Form von Wettlauf gegen die Zeit/ Figuren unter Zeitdruck
  • Ellipsen
  • einfache, durch Kommas statt durch Punkte verbundene Sätze (wird automatisch schneller gelesen und erzeugt ein Gefühl von Atemlosigkeit)
  • kurze Dialogzeilen/Absätze
Vorteile einer schnell fortschreitenden Handlung
  • Spannung, Weiterlesen um jeden Preis
Gefahren von "zu viel Tempo"
  • kein Interesse an Ereignissen, falls Leser vorher keine Bindung an die Figuren aufgebaut haben
  • Verwirrung
  • zu viele schnelle, dramatische Szenen hintereinander erschöpfen

„Verlangsamer“
  • Hintergrundinformationen
  • Alltagsszenen; kleine, nicht plotrelevante Aufgaben
  • Introspektion
  • beziehungszentrierte Dialoge
  • ausführliche Beschreibungen
  • komplexere Satzstrukturen
  • Detailbeobachtungen
Vorteile von "gemächlicheren" Szenen
  • Welt und Charaktere können eingeführt und entwickelt werden
  • Beziehungen zwischen Figuren entwickeln sich weiter
  • Actionszenen erhalten ihr Gewicht dadurch, welche Konsequenzen sie für Figuren haben
  • Erholung zwischen den schnellen Szenen
Gefahren
  • Übermaß an Beschreibung
  • Langeweile, falls zu lange nichts Dramatisches passiert


Wie mache ich langsame Szenen spannender?

Die vielleicht ultimative langsame Szene ist der gefürchtete Info-Dump. Leider müssen bestimmte Informationen einfach vermittelt werden, damit Leser*innen wissen, worum es eigentlich geht. Wie also bringt man Spannung in diese Szenen?
1. Humor: Infodumps werden leichter akzeptiert, wenn der/die Ich-Erzähler*in sarkastisch und sehr durch seine/ihre Sicht der Dinge gefärbt erklärt, wie oder warum etwas funktioniert. (Bsp.: Jonathan Strouds „Bartimäus“ benutzt Fußnoten, um Aspekte der Welt einzuführen – dieses eigentlich eher mit wissenschaftlichen Arbeiten assoziierte Stilmittel funktioniert, weil die Fußnoten im unverkennbaren Tonfall Bartimäus’ gehalten sind).
2. Konflikt: Das ist ein Mittel, das ich gerne benutze, um Info-Dumps aufzubrechen. Wenn z.B. Charakter A Charakter B etwas erklärt, dann geht es in dem Gespräch nicht nur um die einzuführende Information, sondern auch um die angespannte Beziehung der beiden Figuren. Menschen interessieren sich in der Regel nicht wirklich für Dinge oder abstrakte Konzepte, aber sobald es um andere Menschen (oder annähernd menschliche Wesen) und deren Empfindungen geht, wirkt eine Szene plötzlich sehr viel interessanter.
Wenn sich der Ton einer Szene radikal ändert (insbesondere, wenn ein Konflikt eskaliert oder die lockere Atmosphäre plötzlich von einer bedrohlichen Stimmung abgelöst wird), vermittelt das immer das Gefühl von Bewegung. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Figuren in einer Szene etwas wollen, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. Das kann etwas Konkretes sein wie die Suche nach einer bestimmten Information oder die Befriedigung eines materiellen Bedürfnisses, aber auch etwas Diffuseres. Z.B. könnte eine Figur im Gespräch mit einer anderen unbedingt deren Anerkennung gewinnen wollen. Eine Szene trägt immer dann etwas zum Handlungsfortschritt bei, wenn sie den Status Quo verändert, idealerweise auf mehreren Ebenen.
3. Die wichtigste Methode zur Straffung der Handlung ist die Offensichtlichste: Kürzen.
Auf dem sprachlichen Level sollten hier unnötige Adjektive wegfallen (als allererstes die, die kein konkretes Bild entstehen lassen, wie z.B. „hübsch“). Wenn ein Substantiv von drei Adjektiven näher beschrieben wird, würde ich empfehlen, nur das überraschendste oder aussagekräftigste zu behalten. Auch Filterwörter wie „er sah“/ „er fragte sich“/ etc. sind oft unnötig, insbesondere wenn die Erzählperspektive „close third limited“ ist und Leser*innen dem Charakter halb im Kopf, halb auf der Schulter sitzen und implizit wissen, dass alles, was sie sehen, durch seine Wahrnehmungen gefiltert wird. Filterwörter können sogar die Distanz zwischen Leser*innen und Figur erhöhen, was mal gewünscht sein kann, aber es in der Regel nicht ist. Auch durch das Vereinfachen von Satzstrukturen kann helfen.
Aber noch wichtiger ist die Frage: Brauchen Leser*innen diese Information? Auch Informationen, die lediglich die Welt oder eine bestimmte Figur plastischer und vielschichtiger erscheinen lassen, haben ihre Berechtigung und sind sogar notwendig, damit es sich nicht so anfühlt, als sie die Welt bloß eine Kulisse für die Figuren und die Figuren gesichtslose Akteure ohne Leben außerhalb des Hauptplots. Meist gilt hier jedoch Qualität>Quantität.
Bei Szenen ist die Frage: Was soll diese Szene bewirken? Falls es hierauf keine befriedigende Antwort gibt, kann die Szene in der Regel weggekürzt werden. Wenn sie doch eine kleine Funktion erfüllt, aber nur sehr wenig beiträgt, können entsprechende Zeilen vielleicht in eine andere Szene integriert werden.

Wann sollte ich die Handlung verlangsamen?

Auf den ersten Blick erscheint es kontraintuitiv, die Handlung eines Buches verlangsamen zu wollen. Schließlich ist „nicht spannend“ eines der vernichtendsten Urteile, die man über eine Geschichte fällen kann.
Aber auf der anderen Seite kann auch Erschöpfung eintreten, wenn die Handlung über einen zu langen Zeitraum zu schnell dahinrast und ein Plot-Twist den nächsten jagt. Figuren und Leser*innen brauchen Zeit, um Wendungen zu verarbeiten, und die sollten sie auch erhalten.
Darüber hinaus sind es „langsame“ Szenen, in denen im Vordergrund steht, wer die Figuren sind und wie sie sich entwickeln, die es Lesern erlauben, Beziehungen zu diesen Figuren aufzubauen und deshalb mitzufiebern, wenn sie z.B. in eine Verfolgungsjagd verwickelt werden. Während eine Actionszene in einem Film auch außerhalb ihres Kontexts beeindrucken kann, rührt der Nervenkitzel bei Action in Büchern zu einem Großteil daraus, dass etwas auf dem Spiel steht, was dem/ der Leser*in wichtig geworden ist.
Außerdem drängen „schnelle“ Szenen dazu, schnell zu lesen und bloß nicht aufzuhören. Wenn der Sog nicht ganz so groß ist, erlaubt das den Leser*innen, innezuhalten und nachzudenken. Auch sind es diese Szenen, in denen die Konsequenzen und Implikationen von Ereignissen vorgestellt werden können.
Also bietet es sich, gerade wenn sich ein Manuskript noch sehr hektisch und handlungszentriert liest, an, Szenen einzustreuen, in denen z.B. eine Handlung einer Figur, die etwas über ihren Charakter enthüllt, genau beschrieben wird. Auch Aspekte der Welt könnten genauer geschildert werden oder ein Dialog zeigen, wie die Figuren zu einander stehen und wie sich ihre Erlebnisse auf sie auswirken.
Mögliche „Verlangsamer“ habe ich ja schon am Anfang des Artikels aufgelistet. Und eine nur langsam fortschreitende Handlung ohne Action und große Enthüllungen muss nicht notwendigerweise spannungsfrei sein – ein gutes Beispiel dafür ist „Der Übergang“ von Justin Cronin, wo die Handlung oft eher langsam dahinfließt, aber dabei von der Ahnung einer herannahenden Katastrophe überschattet wird. Und in Jacqueline Careys „Kushiel“-Büchern stören die ausführlichen Beschreibungen von opulenten Kleidern und komplexen politischen und persönlichen Beziehungen nicht, weil sie einfach perfekt zu der Perspektive der Hauptfigur passen und mit den Reiz des Buches ausmachen.

Schnelles und langsames Pacing: Beispiele

1. Richard Morgan: Altered Carbon
Dieses Buch ist ein gutes Beispiel für einen Roman, in welchem durchgängig ein sehr schnelles Pacing aufrechterhalten wird. Die Handlung ist ziemlich verschachtelt, die Figuren eigentlich immer aktiv. Dass die Handlung schnell fortschreiten kann, scheint eine der Prioritäten des Autors gewesen zu sein, denn er verzichtet auf einige der Vorteile, die „langsame“ Szenen gebracht hätten. Z.B. führt er einen Science-Fiction-Weltentwurf ein, der eine Reihe spannender philosophischer und psychologischer Implikationen hat, aber nimmt sich nicht die Zeit, diese wirklich zu erkunden. Sein Protagonist, Takeshi Kovacs, ist ganz darauf ausgelegt, in Bewegung zu bleiben, und verdankt einer Mischung aus Veranlagung und speziellem Training eine nahezu übermenschliche Resilienz, die verhindert, dass er zwischendurch erst langsam wieder auf die Beine kommen muss.
Das Ergebnis: ein Buch, das man trotz seiner >600 Seiten binnen kürzester Zeit durchgelesen hat, bei dem aber auch viele interessante Aspekte zu kurz kommen und relativ wenig Identifikation mit Figuren stattfindet. Man sieht hier meiner Meinung nach sehr gut die Vorteile, aber auch den Preis eines sehr hohen Handlungstempos.
Für mehr Infos: Meine Rezension auf Literatopia

2. Patrick Rothfuss: Der Name des Windes
„Der Name des Windes“ verspricht auf dem Klappentext epische Konflikte, aber auch wenn der junge Protagonist mit Verlust und Gefahr konfrontiert wird und es durchaus Actionszenen gibt, handelt es sich eher um einen gemächlichen Coming-of-Age-Roman. Kvothe vergisst nie das Rätsel, dessen Lösung er sich verschrieben hat, aber es wird auch ausgiebig geschildert, wie er mit finanziellen Engpässen umgeht oder sich im Lautenspiel versenkt. Am Ende des Buches ist kaum etwas von dem eingelöst, was der Klappentext versprochen hat, aber dennoch das das Buch viele völlig begeisterte Fans. Weswegen? Ich vermute, es liegt zum Teil an Rothfuss schöner Sprache und seiner Fähigkeit, auch kleinere Konflikte emotional aufzuladen, aber auch daran, dass er hin und wieder kleine Hinweise einstreut, die für die großen Fragen des Romans interessant werden könnten. Dennoch ist er mit einem Fantasy-Roman, der erstmal in Ruhe vor sich hin mäandert und bei dem der Hauptplot teilweise sehr in den Hintergrund tritt, ein gewisses Risiko eingegangen.

Tipps: Wie schätze ich das Pacing meines Romans ein?

Das ist eine große Herausforderung für Autor*innen, da a.) die eigene Schreibgeschwindigkeit und b.) das Wissen, was später im Roman passieren wird, die eigene Wahrnehmung verzerren. Ich behelfe mir mit zwei Methoden.
1. Ich frage Alpha- und Betaleser*innen (von denen ich übrigens noch mehr gebrauchen könnte).
2. Ich teile mein Buch in Kapitel und Szenen ein und markiere sie farblich, je nachdem, ob es sich um Actionszenen, Gespräche, die Charakterbeziehungen ändern, Beschreibungen oder Momente der Introspektion handelt. Dabei achte ich darauf, dass nicht zu viele Abschnitte in der gleichen Farbe nacheinander kommen. Wenn ich mit mehreren Erzählsträngen und Perspektiven arbeite, kann ich Kapitel, die etwa zeitgleich stattfinden, vertauschen, um genau das zu gewährleisten. Falls das nicht möglich ist, greife ich auf die schon vorher genannten Methoden zurück und streue schnelle/ langsame Szenen ein, um für mehr Abwechslung in Erzähltempo und Stimmung zu sorgen. Hier kommt ein detailliertes Beispiel:

Pacing-Reparatur in „Drúdir 3“

Tatsächlich war meine Unzufriedenheit mit dem Tempo der Handlung einer der Gründe, wieso ich „Drúdir 3“ zweimal geschrieben habe – der erste Entwurf war eine hektische Abfolge von Ereignissen, die so eng getaktet waren, dass den Figuren zwischendurch keine Zeit blieb, sie zu verarbeiten oder Beziehungen zueinander zu entwickeln. Deswegen habe ich mehr oder weniger von vorne angefangen und nur einige wenige Passagen übernommen. Der Großteil von Version 2 findet zwar auch innerhalb von drei bis vier Tagen statt, in denen sich die Ereignisse überschlagen, aber das Buch startet langsamer, sodass Leser*innen erstmal in Ruhe aufnehmen können, wo die bekannten Figuren jetzt sind und wie es ihnen nach den Ereignissen von Band 1 & 2 geht. Sie können auch die neuen Figuren in Ruhe kennenlernen und es gibt mehr Raum für den Weltenbau. Alles in allem ist „Drúdir 3 - Version 2.0" dadurch, dass ich mir mehr Zeit nehme, ein besseres Buch geworden.
Auf der anderen Seite habe ich aber auch eine sich nicht unvermeidlich aus der Handlung ergebende Actionszene und eine Wendung, die den Figuren die Bedrohung vergegenwärtigt, mit der sie es zu tun haben, eingestreut, um zu verhindern, dass der Roman zu langsam und dialoglastig wird – aber auch dafür gesorgt, dass diese Szenen aber auch mehr als nur diese Funktion erfüllen.

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Die Bücher
von Swantje Niemann 9. Juli 2024
Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt.  Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).
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