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Frauenfiguren schreiben

Swantje Niemann • Mai 14, 2020
Hinterkopf und Schultern einer Frau
Bild: Pixabay
Ich möchte manchmal sagen: „Wenn deine Frauenfiguren klischeehaft rüberkommen, benutzt du nicht genug“, aber natürlich ist die Sache nicht so einfach. 

Einleitung: Brauchen wir diesen Artikel wirklich?
Es überrascht mich ein wenig, aber ich glaube, schon. Ich stoße online wieder und wieder auf Posts von Männern, die nicht sicher sind, ob sie Frauen überzeugend darstellen können, und sich große Sorgen machen, ihr weibliches Publikum vor den Kopf zu stoßen. Das überrascht mich regelmäßig. Ich kann diese Vorsicht gut nachvollziehen, wenn es darum geht, Mitglieder einer benachteiligten und selten repräsentierten Gruppe, mit deren Mitgliedern man wenig Berührung hatte, akkurat darzustellen. Aber Frauen? Es lässt sich eigentlich nicht vermeiden, mit Frauen zu interagieren, und Geschichten von und über Frauen, die als Vorbilder dienen können, sind allgegenwärtig. Woher kommen also diese Zweifel?
Ich vermute zwei Gründe dahinter. Einer ist das leider tief in unserer Kultur verwurzelte Narrativ, dass Frauen mysteriöse, zutiefst von Männern verschiedene Wesen sind. Der andere ist die verschiedene Bewertung von frauen- und männerzentrierten Geschichten, bei der die einen als Bücher für eine weibliche Zielgruppe, die anderen als universell wertvolle Literatur wahrgenommen werden. Ebenso ist es akzeptierter für Frauen/Mädchen, Medien mit einer explizit männlichen Zielgruppe zu konsumieren – es kann sogar mit einem höheren Status einhergehen – als umgekehrt. Dass etwas „nach Mädchen aussieht“ war – zumindest noch in meiner Kindheit – ein Grund für so einige Jungen, es mit spitzen Fingern anzufassen.
Dies führt dazu, dass Frauen von ihrer Kindheit an daran gewöhnt sind, männliche Protagonisten zu begleiten und sich in sie hineinzuversetzen, während das umgekehrt nicht der Fall ist. Auch bei meinen ersten dilettantischen Schreibversuchen wäre ich nicht auf die Idee gekommen, einen Roman zu schreiben, in dem maximal eine oder zwei benannte Frauen vorkommen, wie ich es bei einigen unerfahreneren männlichen Autoren gesehen habe. Im Gegenteil, ich habe instinktiv mehr Männer als Frauen in meine Bücher geschrieben (über nicht-binäre Repräsentation, bzw. deren komplette Abwesenheit, reden wir an dieser Stelle lieber nicht). Ich habe nicht wirklich daran gezweifelt, dass ich eine überzeugende männliche Figur schreiben konnte, immerhin war ich von Beispielen dafür umgeben, wie man es – anscheinend – richtig machte. 
Mittlerweile bin ich auch etwas vorsichtiger, weil ich weiß, dass es auch bei männlichen Figuren ein paar Narrative und Klischees gibt, ohne die ein Buch tendenziell besser ist, aber nicht annähernd so verunsichert, wie es einige Männer zu sein scheinen, die sich Sorgen machen, dass ihre Frauen flach oder gar karikaturenhaft erscheinen. 

Ratschläge auf Plot- und Figurenebene
Meiner Meinung nach sind die drei wichtigen Schritte, um ein unfreiwillig sexistisches Buch zu vermeiden, die folgenden:
  1. Frauenfiguren mit Agency ausstatten, 
  2. Frauen zeigen, die mit den Erwartungen an ihr Geschlecht brechen, 
  3. aber ohne dabei weiblich konnotierte Verhaltensweisen und Fähigkeiten pauschal abzuwerten. 
Frauen sollten Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen, welche den Plot maßgeblich beeinflussen, und auch einige traditionell männlich konnotierte Dinge tun. Gleichzeitig sollte das nicht damit einhergehen, dass eine weibliche Figur sich möglichst männlich geben und das Verhalten anderer Frauen abwerten muss, um als „stark“ gesehen zu werden. Ebenso sollten auch männliche Figuren hin und wieder weiblich konnotierte Verhaltensweisen zeigen, ohne damit entweder hochgezogene Brauen oder übertriebenes Lob zu ernten.
Ein paar Dinge, die ich jenseits dieser universellen Ratschläge gerne öfter sehen würde, wären die folgenden.
  1. Freundinnen/Mentorinnen/Expertinnen – Frauen, die kein Love Interest sind, und die Hauptfigur mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten, aber auch emotional unterstützen.
  2. Herrscherinnen/Frauen auf mittleren Machtpositionen – sagt nicht einfach, dass in eurer Welt Gleichberechtigung herrscht, sondern zeigt es!
  3. Frauen, die auch mal mittelmäßig in etwas sein dürfen – in sehr vielen Büchern und Filmen sind Frauen, die sich in traditionellen Männerdomänen bewegen, sehr gut in dem, was sie tun. Das hat etwas mit der traurigen Realität zu tun, dass sie es in der Wirklichkeit oft sein müssen, um überhaupt eine Chance zu haben, und wahrscheinlich auch mit der Sorge, dass ihr Scheitern als Botschaft missdeutet werden könnte. Aber durch solche Geschichten ergibt sich manchmal der Eindruck, dass eine Frau sich nicht aus ihrer Rolle wagen kann, ohne stellvertretend für ihr ganzes Geschlecht etwas beweisen zu müssen. Ich persönlich würde gerne mehr über mittelmäßige Schwertkämpferinnen, Physikerinnen, die es gerade so durchs Studium schaffen, und weibliche Gamer, die mit mehr Spaß als Talent bei der Sache sind, lesen.
Aber wie macht man Letzteres, ohne dass es erscheint, als unterstellte man Frauen mangelndes Talent für männlich konnotierte Hobbys und Berufe? Hier kommt der Ratschlag vom Anfang des Kapitels ins Spiel: Zeigt einfach mehr Frauenfiguren, die ein breites Spektrum an Fähigkeiten und Interessen abdecken. Unsere Protagonistin, die sich fragt, ob die Naturwissenschaften wirklich das Richtige für sie sind, könnte von Professorinnen und Tutorinnen lernen, die ganz klar nicht die gleichen Probleme haben. Unsere untalentierte Schwertkämpferin könnte als kleines Mädchen gespielt haben, dass sie eine der großen Heldinnen der Vergangenheit ist.
Viele und vielfältige Frauenfiguren helfen auch, es nicht aussehen zu lassen, als werte man weiblich konnotierte Fähigkeiten und Interessen ab. Femininere und maskulinere Frauen auftreten zu lassen, die voneinander und vom Plot mit dem gleichen Respekt behandelt werden, ist eigentlich ein ziemlich gutes Rezept dafür, Punkt zwei und drei meiner ersten Aufzählung zu erfüllen. Ebenso sind die meisten Leute eine Mischung aus Eigenschaften und Interessen, die stereotyp mal dem einen, mal dem anderen Geschlecht zugeordnet sind, und das kann und sollte sich auch in ihrem Verhalten wiederspiegeln. Wie wäre es z.B. mit der aufwändig zurechtgemachten Ballschönheit, die mit ihrem leeren Champagnerglas vorsichtig eine Spinne fängt und aus dem Fenster befördert, bevor sie zurückkehrt, um weiter mit ihren Freundinnen herumzukichern? Der durchsetzungsfähigen Handwerkerin, die sich abends gerne mal beim Schauen eines Makeup-Tutorials entspannt? Der Romance-Autorin mit der pastellfarbenen Website, welche regelmäßig ihren Freund*innen bei der Steuererklärung hilft, weil ihr alles, was mit Wirtschaft und Recht zu tun hat, leicht von der Hand geht? 
Aber gerade habe ich vor allem über „normale“ Frauenfiguren gesprochen – ich möchte natürlich auch überlebensgroße Heldinnen und Unfälle auf zwei Beinen, eben die ganze Bandbreite von Rollen und Archetypen, die es auch bei männlichen Figuren gibt. Gerade in den weniger auf Realismus abzielenden Fantasy- und Science-Fiction-Stoffen gibt es viel Raum für Figuren, die gerade deshalb faszinieren, weil sie Dinge tun und können, welche die Fähigkeiten und Grenzen normaler Menschen weit überschreiten. Da sind z.B. Mentorfiguren wie Abess Glass aus „Book of the Ancestor“ oder Elayne Kevarian aus „Three Parts Dead“, die jeden Schritt ihrer Gegenspieler*innen voraussehen. Oder Figuren wie Harley Quinn in „Birds of Prey”, die auf unterhaltsame Weise den „Comedic Heroic Sociopath“-Trope verkörpert. Oder tragisch-beeindruckende Gestalten wie Baru Cormorant aus „Die Verräterin“, die sich fragt, wie weit sie zu gehen bereit ist, um ein Imperium von innen heraus zu Fall zu bringen. Hier ist ein ausführlicher Post über besonders gut gemachte Frauenfiguren in Fantasyromanen.

Männliche vs. weibliche Figuren – gibt es da Unterschiede?
Menschen positionieren sich bewusst oder unbewusst dazu, was ihnen über Geschlechter vermittelt wurde und wird, und Buchfiguren tun dasselbe. Und selbst wenn sie selbst bestimmte Stereotype für albern halten, wissen sie doch, dass sie in den Köpfen anderer Menschen präsent sind, und dass sie diese mit ihrem Verhalten entweder wiederlegen oder bestätigen. 
Wenn eine Geschichte also nicht in einem Setting spielt, in welchem Geschlechterrollen nahezu inexistent sind, sind Angehörige verschiedener Geschlechter mit unterschiedlichen Erwartungen aufgewachsen. In unserer Gesellschaft gibt es z.B. verschiedene Erwartungen, wie fordernd/offen aggressiv Menschen auftreten dürfen, wer Schwäche zeigen und von anderen Menschen abhängig sein darf und wem Kompetenzen auf welchem Gebiet zugeschrieben werden. Figuren können solche Erwartungen internalisieren, ablehnen oder aber eine ambivalente Position dazu haben, z.B. einerseits unrealistische Schönheitsideale kritisieren, aber sich gleichzeitig schlecht fühlen, weil sie ihnen nicht entsprechen. 
Also ja, es gibt Unterschiede, die man im Hinterkopf behalten sollte, ohne ihnen wiederum zu viel Raum zu gewähren. Es lohnt sich durchaus, darüber nachzudenken, was geschlechtsspezifische Rollenerwartungen sind, wie die Figur zu ihnen steht und was sie zu gewinnen und zu verlieren hat, wenn sie mit ihnen bricht oder ihnen folgt. Und natürlich werden verschiedene Figuren verschiedene diesbezügliche Entscheidungen treffen. 

Beschreibungen
Ok, aber wie sollte man seine vielseitigen und vielfältigen Frauenfiguren äußerlich beschreiben, ohne zu riskieren, dass ein Schnappschuss der entsprechenden Passage auf r/menwritingwomen landet? Hier sind ein paar Tipps, die ich teilweise auch gerne früher gehabt hätte, weil ich diesbezüglich auch einige schlechte Angewohnheiten von etablierten Autoren übernommen habe.
  1. Vergleicht die Art, wie männliche und weibliche Figuren beschrieben werden – was fällt auf? Wenn es Unterschiede gibt, die sich nicht durch die Erzählperspektive erklären lassen, ist hier wahrscheinlich Arbeit nötig.
  2. Beschreibt, ohne zu bewerten. Wörter wie „schön“ oder „hübsch“ sind oft sowieso nicht besonders nützlich, weil sie kein konkretes Bild entstehen lassen. Wie wäre es stattdessen z.B. mit einer Beschreibung wie: „Sie hatte ein rundes Gesicht und ein breites, etwas nervöses Lächeln. Im richtigen Licht sah man auf ihrem hellen Haar noch die letzten Reste beinahe ausgewaschener, türkisfarbener Tönung.“? Oder: „Auf dem Weg zur U-Bahn hob der Wind ihr schulterlanges Haar an und spielte mit ihrem Schal. Ungeduldig ruckte sie mit dem Kopf, um sich eine Strähne aus dem Gesicht zu schütteln. Ihre Schritte waren lang und zielstrebig wie immer, und ich musste mich beeilen, mit ihr mitzuhalten.“? Bewertungen der Attraktivität einer weiblichen Figur würde ich mir für die paar Situationen aufheben, in denen es wirklich relevant ist, z.B. wenn sich eine andere Figur in diese verliebt, oder wenn sie so strahlend gutaussehend ist, dass es sich unmöglich übersehen lässt.
  3. Es gibt durchaus Situationen, in denen Frauen bewusst über ihre Brüste nachdenken, z.B. wenn sie gerade in kurzer Zeit stark zu- oder abgenommen haben, und entsprechendes Wachstum/Schrumpfen im Brustbereich bemerken, oder – aaaaah! – einen Krümel im BH haben und versuchen, sich unauffällig so zu winden, dass er rausfällt. Die Krümel-im-BH-Szene würde ich tatsächlich gerne mal lesen, das hätte definitiv Identifikationspotential, aber abgesehen davon sind die Körperformen von Figuren auch wieder nur in sehr spezifischen Kontexten relevant und beschreibenswert. Es ist eine ziemlich schlechte Idee, sie als allererstes zu beschreiben, auch aus der Sicht anderer Figuren, weil es sonst schnell die P.o.V.-Figur objektifizierend wirken lässt. (Falls das Absicht ist, ist das natürlich eine andere Sache.)
  4. Eher ein Film- als ein Buchproblem: Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau in einer Situation, in der sie womöglich kämpfen/rennen muss, hohe Schuhe und offene Haare hat oder für dünne Kleidung optiert, die nur wenig von ihrem Körper bedeckt – eine Jacke kann bei einem Sturz vor gemeinen Schürfwunden schützen. 

Vermischte Klischees
Hier sind auch noch ein paar Klischees (jenseits der Berühmteren wie der Trophäe oder den monolithischen „other girls“, von denen sich die Protagonistin abhebt, über die schon andere Leute ausgiebig geschrieben haben), von denen ich gerne weniger sehen würde:
  1. Die Spaßverderberin: Der Protagonist möchte einfach in Ruhe seinen Hobbys nachgehen oder Abenteuer erleben, aber seine Frau/Freundin erinnert ihn daran, dass die gemeinsame Wohnung gerade in Dreck ertrinkt/ dass eine Familienfeier bevorsteht/ dass er irgendeine andere banale Aufgabe erfüllen muss. Die Art, wie all das gezeigt wird, suggeriert, dass wir Mitgefühl mit dem grob unterbrochenen Protagonisten haben sollten, der von seinen mundanen Verpflichtungen davon abgehalten wird, erfüllende Dinge zu tun. Was wir nicht sehen: Die Frau/Freundin hat sicher auch ihre inspirierenden Projekte, denen sie sich lieber widmen würde, statt nicht nur ihre eigenen Verpflichtungen, sondern zusätzlich noch die ihres Partners im Kopf zu behalten. Aber das Narrativ (teilweise in Film- und Buchform, aber noch häufiger in Memes und Witzen) zeichnet sie als Hindernis und Nervensäge, die nur an banale Dinge denkt, statt dass herausgestellt wird, dass der Protagonist seinen Teil der Arbeit/des Mitdenkens längst erledigt haben sollte.
  2. Keine Freundschaft/Kooperation zwischen Angehörigen verschiedener Geschlechter ohne sexuelle/romantische Spannung. Ich bin kein Fan der Idee, dass Frauen und Männer keine Freunde sein können, und finde es immer ein wenig schade, wenn sich in einem Buch eine vielversprechende Freundschaft zu entwickeln scheint, nur um sich dann in eine generische Liebesgeschichte zu verwandeln. Ich möchte mehr Geschichten, in denen es darum geht, wie Freundschaft und Respekt zwischen Figuren aufkeimen.
  3. Die intrigante Verführerin: Diese Figur lässt andere Leute die Arbeit für sie machen, und stellt ihnen dafür implizit oder explizit Sex in Aussicht. Das ist ein Trope, der es in vielen Fällen schafft, Frauen und Männer zu beleidigen, weil die fragliche Frau oft nur ihren Körper einsetzt, statt auch mit Argumenten zu arbeiten, und die Männer in ihrem Umfeld komplett triebgesteuert wirken. Dass Menschen Sex benutzen, um andere zu manipulieren, ist durchaus möglich, aber wenn es das einzige Werkzeug im Repertoire einer Figur ist, erntet das bei mir Augenverdrehen, und füttert auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ein paar doofe Vorurteile. 

Fazit
Unzählige Artikel zu dem Thema und die Länge dieses Posts lassen etwas anderes vermuten, aber ich denke dennoch, dass solide, vielleicht sogar gute Frauenfiguren zu schreiben ziemlich einfach ist. Im Zweifelsfall ist es meist „sicher“, einfach über die spannenden Dinge zu schreiben, die eine Figur tut, welche zufälligerweise weiblich ist. Und, wie gesagt: Packt einfach viele Frauenfiguren mit verschiedenen Persönlichkeiten und Hintergründen in eure Bücher. Das macht die Geschichte a.) realistischer und sorgt b.) dafür, dass nicht eine Figur die Hälfte der Menschheit repräsentieren muss. 

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Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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