Geniale Fantasy-Protagonistinnen: Eine Auswahl
Swantje Niemann • 27. April 2020

Bild (c) Tor Books
Heute war ich zu einem Online-Panel über Frauenfiguren in der Phantastik eingeladen – und habe natürlich die Gelegenheit genutzt, ein paar Buchempfehlungen herunterzurattern. Hier sind sie noch einmal ausführlicher:
Strategin und „Powdermage“ Vlora – und ihre tolle Beziehung zu ihrem Partner – habe ich bereits in meinem Post über meine
Lieblingspaare der Phantastik
beschrieben. Seit ihrem ersten Auftritt in der „Powder Mage“-Trilogie hat sie eine große Entwicklung durchlaufen, und begegnet Leser*innen in „Gods of Blood and Powder“ (Brian McClellan) als durchsetzungsfähige, intelligente und mutige, aber trotzdem nicht unbesiegbare Frau.
In Mishell Bakers „Borderline“ lernen Leser*innen Millie kennen. Diese scharfzüngige Ich-Erzählerin stößt nach einem gescheiterten Selbstmordversuch auf eine Welt voller Magie, und jongliert ab sofort eine hochgradig stigmatisierte psychische Erkrankung und eine körperliche Behinderung, anspruchsvolle Jobs im Filmgeschäft … oh, und das Schicksal zweier Welten. Millie erlebt Momente der Schwäche und des Scheiterns ebenso wie solche, in denen sie ihre Stärken ausspielen kann. Humor, Situationskomik und Beziehungsdramen, gegen die Liebesdreiecke harmlos aussehen, treffen auf überzeugend geschilderte Verzweiflung und Themen wie den Kampf gegen strukturelle Ungerechtigkeit. Ich habe beim Lesen laut gelacht und zutiefst mit Millie mitgefühlt.
Mark Lawrence hat mit „Red Sister“/„Waffenschwestern“ den Auftakt zu einer Trilogie voller charismatischer Frauen jeden Alters geschrieben, deren Beziehungen zueinander so vielfältig sind wie sie selbst. Sie sind Liebhaberinnen, Freundinnen, Rivalinnen … und gelegentlich mehr als eines davon. Im Zentrum steht Nona, ein Mädchen, das ebenso loyal wie nötigenfalls tödlich ist, und zu einer beeindruckenden jungen Frau heranwächst. Ein weiterer Pluspunkt: Die poetische Sprache.
In Max Gladstones „Three Parts Dead” suchen zwei sehr kompetente Frauen nach der Wahrheit über den Tod eines Gottes: Die junge Nekromantin Tara und ihre Mentorin Elayne. Tara besticht durch ihre Tatkraft und Geistesgegenwart und ihre nach und nach hervortretenden starken Prinzipien, Elaynes überlegene Ausstrahlung macht sie zu so etwas wie der Power Fantasy, von der ich nicht wusste, dass ich danach gesucht habe. Ihre Geschichte findet in einer der ungewöhnlichsten Fantasywelten statt, die ich kenne.
Turyin Mulaghesh, die Protagonistin von „Die Stadt der toten Klingen”/„City of Blades” (Robert Jackson Bennett) ist eine Frau, wie man sie eher selten in der Hauptrolle eines Fantasy-Romans sieht: eine fünfzigjährige Ex-Offizierin mit einem amputierten Arm. Entschlossen, verfolgt von einer alten Schuld und mit weitaus mehr Klugheit und Subtilität, als sie sich selbst zugesteht, navigiert sie durch eine Stadt, die von Lage um Lage alter Geheimnisse umhüllt ist.
"The Poppy War"
(Rezension in Phantast #21) ist von der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert inspiriert, und erzählt von einer jungen Frau, die eine entscheidende Rolle in einem mit verstörendem Detailreichtum geschilderten Krieg spielt. Rin ist eine faszinierende Antiheldin, wie ich ihr in Fantasyliteratur noch nie begegnet bin, und deren Geschichte im zweiten Band, "The Dragon Republic" spannend weitergeht: Während viele Fantasyfiguren geborene Anführer*innen sind, sucht Rin verzweifelt nach einer Sache, der sie sich mit all ihrer zerstörerischen Macht anschließen kann, aber fragt sich zugleich, wem sie vertrauen kann.
"Jade City"
von Fonda Lee verflechtet meisterhaft Figurenzeichnung und Weltenbau und zeigt abseits von Klischees, wie drei sehr verschiedene Frauen (eine Hauptfigur, zwei sehr markante Nebenfiguren) jeweils auf ihre Weise das Leben in einer in einer patriarchal geprägten Gesellschaft bewältigen, ohne sie auf diesen Konflikt zu reduzieren. Der Großteil der Akteure in diesem Buch sind Männer, aber Shae, Wen und Ayt Mada schreiben sich Lesenden mit ihrer Kompetenz, ihren Zwiespälten und ihrer Willensstärke definitiv ins Gedächtnis.
"Broken Earth" von N.K. Jemisin bedient sich ungewöhnlicher stilistischer Mittel, um eine ganze Menge Dinge zu erreichen. Eines davon ist es, die Facetten und die Wandlungsfähigkeit ihrer Protagonistin zu zeigen, die wir in gleich mehreren Rollen erleben. Hinzu kommen eine einprägsame, von seismischen Katastrophen geformte Welt und eine Geschichte, die ohne je an immersiver Kraft zu verlieren vielfach Bezug auf die reale Welt nimmt.

Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.

Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt. Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).