Fantasykonflikte jenseits von Krieg #1: Naturkatastrophen
Swantje Niemann • 10. März 2020

Bild: Lissabon vor und nach dem Erdbeben von 1755 (Wikimedia Commons)
Dieser erste Beitrag in meiner Serie für Quellen von Konflikt in Fantasywelten jenseits von Kriegen ist von den Recherchen für meine Masterarbeit über das Erdbeben von Lissbon inspiriert.Fallbeispiel: Lissabon 1755
„The populace, it seems, were all full of the notion that it was the Judgement-day“, schrieb Augenzeuge Thomas Chase über das Erdbeben, das Lissabon 1755 erschütterte. Es ist tatsächlich nachvollziehbar, wurde die Stadt doch in rascher Folge von drei Erdstößen, einem Tsunami (das Epizentrum des Erdbebens befand sich auf dem Meeresboden) und einem von Sturmwinden angefachten Feuer heimgesucht.
Menschen flohen in Panik aus der Stadt. Doch schon Tage später begann man, Aufräum- und Wiederaufbau-Arbeiten zu organisieren: Schiffsladungen und die Waren in Speichern wurden beschlagnahmt, Köche und Bäcker durften die Stadt nicht verlassen, es wurden Routen festgelegt, auf denen der Schutt entfernt wurde, und eine komplett neue Altstadt entworfen. Seine kaltblütige Reaktion im Angesicht einer Katastrophe war der entscheidende Wendepunkt in der Karriere des späteren Marquis de Pombal, der nun in der Lage war, als Staatsminister seine ehrgeizigen Pläne zur Modernisierung Portugals umzusetzen.
Religion wurde plötzlich sehr wichtig – Menschen baten Gott um Vergebung, wollten unbedingt Beichten oder zwangen Angehörige anderer Konfessionen, sich zum Katholizismus zu bekennen –, aber erwies sich zugleich als flexibel: Der Erzbischof von Lissabon erteilte die Erlaubnis, es bei den christlichen Bestattungsriten nicht zu genau zu nehmen und die zahlreichen Toten im Tejo zu versenken, um ein Infektionsrisiko zu verhindern. Innerhalb der katholischen Kirche gab es widerstreitende Meinungen, was zu tun war: Einige Prediger beteiligten sich aktiv an der Katastrophenhilfe und betonten in ihren Predigten Gottes Gnade. Wieder andere, wie der Jesuit Gabriel Malagrida, hoben Gottes Zorn hervor und betrachteten den Wiederaufbau der Stadt als Akt des Trotzes gegen ihn. Dies brachte Malagrida in direkte Opposition zu den säkulären Autoritäten, die das Erdbeben strikt als Naturphänomen verstanden wissen wollten.
Die Notwendigkeit, nach einer Katastrophe schnell zu handeln, machte festgefügte Traditionen verhandelbar und erwies sich als Katalysator für Wandel, aber intensivierte auch religiöse Gefühle und wurde zum Anlass, Freiheiten zu beschneiden: Nahrungsmittel konnten beschlagnahmt, die Bewegungsfreiheit von Menschen eingeschränkt, Plünderer nahezu ohne Prozess hingerichtet werden. Neben dem Kampf ums Überleben und die Organisation der Versorgung mit Wasser, Nahrung und der Herstellung hygienischer Verhältnisse fand auch ein eng damit verbundener Kampf um die Interpretation des Erdbebens statt: Naturphänomen oder Strafe eines unversöhnlichen Gottes? Die Sieger des Kampfes um die Interpretation würden bestimmen, welche Lehren Menschen aus dem Erdbeben zogen und wie sie auf dieses reagierten.
Naturkatastrophen als Bewährungsprobe für Menschen und Ideen
Und das ist einer der Aspekte, der den Umgang mit Naturkatastrophen zu einer Gelegenheit macht, um die Kontinuitäten, aber auch die Veränderungen in einer Kultur zu zeigen: Die Katastrophe kann zum Katalysator für Wandel werden, wie es in einem der Sachbücher über Naturkatastrophen heißt, die ich für mein Studium gelesen habe, aber Menschen können sich in ihrer Reaktion darauf auch an festgefügten Traditionen orientieren. Darin, wen sie verantwortlich machen (Hexen? Götter? Sich selbst, weil sie auf erdbebengefährdetem Land/ an einer Küste, die regelmäßig überflutet wird/ zu eng beieinander und nicht feuersicher gebaut haben?) zeigen sich ihre religiösen Überzeugungen und das Verhältnis von Mensch und Natur, von dem sie ausgehen, tritt klarer hervor. Teilweise werden hier auch Widersprüche in Glaubensvorstellungen sichtbar oder wütende, erschütternde Menschen setzen sich über gesellschaftliche Konventionen hinweg, und kritisieren den schwachen Trost der Religion oder aber unbeholfene staatliche Reaktionen. Voltaires Gedicht über die Katastrophe von Lissabon ist berühmt, weil es Religion und Wissenschaft Scheitern attestiert. Naturkatastrophen sind auch Gelegenheiten für Herrschende, ihre Position zu schwächen oder zu stärken, teils mit realen, teils mit symbolischen Maßnahmen: Beispielsweise konnten sich z.B. nach Lissabon König João und Pombal als tatkräftige Retter in der Not inszenieren und in den letzten Jahren zementierten Donald Trump und seine Familie mit ihren unbeholfenen, unempathischen Reaktionen auf Naturkatastrophen die Verachtung großer Teile der Bevölkerung für sie.
Die Maßnahmen gegen Katastrophen müssen ins Weltbild der Menschen integriert und teilweise auch gerechtfertigt werden. So hieß es z.B. in einem Text aus dem 18. Jahrhundert mit dem griffigen Titel „Historisch-theologisch Denkmal der wundervollen Wege Gottes in den großen Wassern, welche sich anno 1717, den 25. Dezember zu vieler Länder Verderben so erschröcklich ergossen: mit den vielen so unglück- als glücklichen Folgen, die sich bis in das 1721. Jahr zugetragen“ (Johann Friedrich Janssen: Jever/Bremen 1722, S. 784):
„Es streitet solches nicht mit dem Vertrauen auff die Göttliche Vorsorge, als wann wir dadurch zu erkennen gäben, Gott sey nicht allmächtig oder er wolle uns nicht versorgen. Ach nein! Das Vertrauen auf Gottes Schutz schliesset nicht aus die ordentlichen Mittel, die uns als nützlich und gut zu gebrauchen bekannt sind vielmehr sind wir verbunden, uns derselben zu bedienen.“
Brandschutzbestimmungen oder der Bau von Deichen, der ein hohes Maß an Kooperation und Koordination erfordert, sind seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden etablierte Maßnahmen, und im 16. Jahrhundert schriebt ein Architekt einen Traktat über erdbebensicherere Bauweisen.
Was hat das alles mit Fantasy-Romanen zu tun?
Ich denke, dass Naturkatastrophen aus einer Worldbuilding-Perspektive interessant sind: Welche materiellen und kulturellen Ressourcen bringen Figuren mit, um sie zu bewältigen? Wie erklären sie sich Katastrophen? Werden gesellschaftliche Strukturen gestärkt oder destabilisiert? Der Kontrast zur Krise erlaubt es, Aspekte der Welt zu zeigen, die für die Figuren so selbstverständlich sind, dass sie erst durch die Abweichung wirklich sichtbar werden.
Die Schilderung von Naturkatastrophen eine Gelegenheit, Menschen in Extremsituationen zu zeigen. Wie gehen individuelle Figuren mit Schock, Trauer, Verletzungen und womöglich dem Verlust ihrer Lebensgrundlage um?
Ich kann mir gleich mehrere Figuren vorstellen, deren Geschichten spannend wären:
- Einfache Menschen, die einfach nur zu überleben versuchen.
- Eine junge Herrscherfigur (durch eine Wahl/Eroberung/Erbkönigtum/etc an die Macht gekommen), deren Land von einer Katastrophe ereilt wird, als ihre Herrschaft noch neu und ungefestigt ist, und die weiß, dass jetzt alles von seiner Reaktion abhängt. (Oder jemand, der in der zweiten Reihe steht, und nun, je nach der Qualität seiner Ratschläge, aufsteigen oder fallen wird).
- Eine Figur, die öffentlich die vorherrschende, aber falsche religiöse oder wissenschaftliche Interpretation einer bestimmten Katastrophe in Zweifel zieht, um durch fundierte Reaktionen/Schutzmaßnahmen Leben zu retten, und sich damit erbitterte Feinde macht.
- Feinde (z.B. Angehörige verfeindeter Adelsfamilien), die angesichts einer Katastrophe gezwungen sind, zusammenzuarbeiten, und darüber bemerken, dass ihre Differenzen nicht so groß sind wie zuvor geglaubt.
Verwenden Bücher dies bereits?
Es gibt einige Fantasyromane, in denen Gesellschaften von großen Katastrophen in ihrer Vergangenheit und Gegenwart geprägt wurden. So ist z.B. fast die gesamte Kultur der Menschen in N.K. Jemisins „Zerissene Erde“ darauf ausgerichtet, seismische Katastrophen zu überleben. Und Roschar, der Schauplatz von Brandon Sandersons „Sturmlicht-Chroniken“ ist von zyklisch wiederkehrenden „Highstorms“ geprägt, welche Flora und Fauna, Architektur und Wirtschaft beeinflussen. In Fonda Lees „Jade City“ tritt die Feindseligkeit zweier beinahe-feudaler Clans in den Hintergrund, als sie Katastrophenhilfe für die von ihnen abhängigen Menschen leisten.
Die anderen Beiträge der Serie
Wahlen & Gesetzgebung

Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.

Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt. Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).