Fantasykonflikte jenseits von Krieg #2: Gerichtsdramen
Swantje Niemann • 16. März 2020

Bild: Ausschnitt aus dem Codex Runicus aus dem 14. Jh (Quelle)
Oft tritt im Verlauf von High-Fantasy-Romanen mehr und mehr hervor, dass die Figuren ein anderes Rechts- und Wertesystem haben als die Leser*innen. Ihre impliziten Vorstellungen von Richtig und Falsch sowie die Schwere, die sie verschiedenen Regelverstößen zuordnen, können demonstrieren, dass wir uns in eine andere Welt begeben haben, und dazu beitragen, fiktive Kulturen zum Leben zu erwecken. Aber wie würde sich die Auseinandersetzung mit den Gesetzen einer Fantasywelt und denjenigen, die sie brechen, im Zentrum einer Geschichte machen?Gesetze, Regeln und Werte als Worldbuilding
Um wieder Fonda Lees „Jade City“ als Beispiel anzuführen: Das Buch wird als eine Geschichte über Verbrecherdynastien verkauft, aber in-Universe werden die Clans, um die es geht, keineswegs als solche betrachtet. Die Einstellung dazu, wer Gewalt ausüben darf und unter welchen Umständen, ist ebenfalls eine sehr andere als in unserer Welt. Und in China Miévilles „Perdido Street Station“ beginnt der Plot, als ein Garuda (eine Art Vogelmensch) mit abgeschnittenen Flügeln bei dem Wissenschaftler Isaac auftaucht. Die Begriffe, in denen er Isaac das Verbrechen erklärt, für das er verstümmelt wurde, sagen diesem zunächst überhaupt nichts, weil das Rechts- und Wertesystem der Garuda – und die gesamte Gesellschaftsstruktur, aus der es hervorgegangen ist und die es aufrecht erhält – diesem vollkommen fremd sind. Dieses Aufeinanderprallen von zwei Kulturen lässt auch die Welt diverser und damit größer und realistischer erscheinen. Und in Robert Jackson Bennetts „Die Stadt der tausend Treppen“/„City of Stairs“ leistet ein Gerichtsprozess am Anfang einiges an Exposition: Ein Händler wird wegen der Verwendung eines vermeintlich harmlosen Symbols angeklagt. Allerdings stellt sich auf den nächsten Seiten heraus, dass es das Symbol eines Gottes ist, mit dem die neuen Herrscher der Stadt traumatische Erinnerungen verbinden. Ihr Bemühen, das Gedenken an die alten Götter auszulöschen, hat einen Weg ins Rechtssystem gefunden.
Gesetze und Verbote können ihren Ursprung zum Beispiel in Religionen haben, oder in Umweltfaktoren. So ist es z.B. in den kleinen Communities von Überlebenden der Vampirapokalypse in Justin Cronins „Der Übergang“ streng verboten, nach Einbruch der Dunkelheit die Tore zur Siedlung zu öffnen. Das ist angesichts dessen, dass das den Tod aller Menschen innerhalb der schützenden Mauern bedeuten könnte, nicht gerade überraschend. Historische Institutionen hatten ihre eigenen, teilweise für heutige Verhältnisse skurril und kleinteilig wirkenden Regeln – ein historisches Beispiel wäre der Code of Conduct der Tempelritter (CN Homophobie).
Auch die Strafen, die von Gerichten verhängt werden, sind oft in kulturellen Einstellungen (Rehabilitation vs. Rache), aber auch den ökonomischen Umständen verankert: So wurden z.B., als in neugegründeten englischen Kolonien billige Arbeitskräfte gebraucht wurden, viele Todesurteile in eine Verurteilung zu Indentured Servitude umgewandelt. Wer vor Gericht mit Milde zu rechnen und wer eigentlich schon von Anfang an verloren hat, sagt auch viel über Machtstrukturen und Vorurteile in einer Gesellschaft aus.
Eine weitere Frage ist die danach, wie der Prozess aussieht? Was gilt als Beweis? Wie, wenn überhaupt, wird die Unabhängigkeit des Gerichts gewährleistet? Gibt es Gottesurteile/Duelle/ähnliches? Ist das aktuelle Vorgehen in einer langen (eventuell schon seit langem nicht mehr funktionierenden) Tradition verankert, oder wurde es erst kürzlich eingeführt und muss sich bewähren?
Szenen, aus denen hervorgeht, was als ein strafwürdiges Vergehen gilt, von wem und wie es geahndet wird, können einiges über die beschriebene Kultur enthüllen, und so einige Autor*innen machen von diesem Potenzial Gebrauch.
Auseinandersetzungen vor Gericht als zentraler Konflikt
Etwas, was ich jedoch nur sehr selten gesehen habe, aber faszinierend fände, wäre ein High-Fantasy-Gerichtsdrama. Es wäre eine Gelegenheit, tief in die Denkweise und das Wertesystem einer fiktiven Kultur einzutauchen, eine Menge persönliches Drama und offene Fragen einzubauen und eine Situation zu schaffen, in welcher für einige wenige Figuren eine Menge auf dem Spiel steht - was womöglich eine angenehme Abwechslung von den für das Genre typischen Plots ist, bei denen sich mindestens das Schicksal eines Landes und vielleicht sogar das einer Welt entscheidet.
Die Suche nach Beweisen könnte Figuren an eine Vielzahl von Orten und zu vielen verschiedenen Leuten führen, ablaufende Fristen eine tickende Uhr im Hintergrund schaffen. Es ist auch eine schöne Gelegenheit, um Ungewissheit und Ambivalenz zu schaffen: Was ist die Wahrheit? Welche Geheimnisse hüten Figuren? Was ist unverzeihlich, was kann gerechtfertigt werden?
Ein paar Szenarien, die ich mir vorstellen könnte:
- Eine Figur verteidigt jemanden, von dem sie nahezu sicher ist, dass er unschuldig angeklagt wurde. Sie versucht herauszufinden, was wirklich passiert ist, redet bei ihren Recherchen mit vielen Leuten, und weiß bald nicht mehr, wessen Aussage sie trauen kann.
- Die Revolution hat stattgefunden und nun müssen die Sieger*innen entscheiden, was mit den gestürzten Herrscher*innen passieren soll.
- Eine Figur bricht ein skurriles, veraltetes Gesetz. Es stellt sich heraus, dass es aus magischen Gründen im Gesetzeswerk verankert ist, und dass die Figur etwas Uraltes und Mächtiges entfesselt hat.
- Mehrere Figuren versuchen, jemand Mächtigen für ein Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, selbst wenn die Kräfteverhältnisse ungleich verteilt sind.
- Ein scheinbar unauffälliger Fall wird zum Anlass, aufzudecken, was alles in der Justiz eines Landes schiefläuft.
Ein spannender Aspekt wären auch konkurrierende Rechtssysteme, z.B. kirchliches und weltliches Recht, oder ein Fall, der zum Stellvertreterkonflikt für konkurrierende politische Fraktionen wird.
Gibt es Fantasyromane, die so etwas bereits machen?
Max Gladstone beschreibt in der „Craft Sequence“ Magie, die auf Verträgen basiert, und der Umgang mit ihr scheint von teilweise von Wirtschaft und Rechtswesen inspiriert zu sein. So agieren die Nekromant*innen im ersten (oder dritten, je nachdem, ob man die Bücher chronologisch oder in Veröffentlichungsreihenfolge liest) Band „Three Parts Dead“ sehr wie Anwält*innen. Gleichzeitig erinnern Gerichtsverhandlungen hier an magische Duelle. Valerie Colbergs vom antiken Rom inspirierter Roman "Talvars Schuld"
hingegen kommt ohne viel Magie aus und macht einen Gerichtsfall, der wieder aufgerollt werden soll, zum Ausgangspunkt der Handlung.
In Sebastian de Castells „Greatcoats“-Tetralogie reisten die sogenannten Greatcoats durch das Land Tristia, brachten Leuten in eingängige Lieder verwandelte Gesetze bei, urteilten in Konflikten und vertraten die Interessen der einfachen Bevölkerung gegenüber dem Adel. Allerdings sind sie zu Beginn der Handlung alle offiziell entlassen und auch wenn immer wieder viel vom Urteil und dem Gerechtigkeitssinn des Protagonisten (und der nahezu vollkommenen Abwesenheit seines Selbsterhaltungstriebs) abhängt, werden die meisten Konflikte hier doch mit Schwertern und Bögen ausgetragen.
Die Protagonisten so einiger Fantasyromane finden sich temporär vor einem ziemlich feindseligen Gericht wieder, z.B. in „Harry Potter und der Orden des Phönix“ oder in George R.R. Martins „A Storm of Swords“, aber in der Regel sind die Prozesse dort nur kurz und dienen vor allem dazu, zu zeigen, wie korrupt die Institutionen sind, vor denen sie sich verantworten müssen.
Die anderen Beiträge der Serie
Wahlen & Gesetzgebung

Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.

Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt. Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).